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Ein Plädoyer für ethnische Medien

Die Dynamik einer weltweiten Migration, die erst am Anfang steht, hat auch in Österreich und Deutschland seit längerem das Ende der Monolingualität eingeläutet. Vielsprachigkeit wird zunehmen, auch in den Medien. Eine Vorschau von Jörg Becker. Wer sich auch nur ein bisschen außerhalb von Österreich und Deutschland umguckt, wird ganz schnell merken, dass es völlig normal ist, dass in den allermeisten Ländern der Erde mehr als nur eine Sprache gesprochen wird und dass ebenfalls in den meisten Ländern der Erde Menschen verschiedener ethnischer Gruppen völlig friedlich miteinander oder nebeneinander leben. Bei gegenwärtig geschätzten 6.000 Sprachen verteilt auf gegenwärtig rund 200 Länder kann das auch rein statistisch nicht anders sein. Die deutsche Monolingualität wie in Österreich und Deutschland ist weltweit deswegen eine Ausnahme, nicht die Regel.

Information und Identität

Medien und Muttersprache sind eng miteinander verzahnt. Da Medienrezeption grundsätzlich zwei soziale Funktionen erfüllt, einerseits nämlich Informationsweitergabe und andererseits stets auch Identitätsstiftung, kommt muttersprachlichen Medien für MigrantInnen in der anderssprachigen Aufnahmegesellschaft eine einzigartige Funktion zu. Bei einem Herrschaftsgefälle von der dominanten Aufnahmegesellschaft zu randständigen MigrantInnengruppen gewährt die Rezeption eigensprachlicher Medien so etwas wie Vertrautheit, Nähe, Ruhe, In-Ruhe-gelassen-Werden und das angstfreie Gefühl von Zuhause, sich selbst sein können.

Wer sich in Kalifornien umguckt, entdeckt dort eine alte, blühende, anwachsende und völlig eigenständige spanischsprachige Medienlandschaft. Während die Zahl der spanischsprachigen Zeitungen ("Hoy" und "El Mensajero") in letzter Zeit nur stabil blieb, wuchs die Zahl der NutzerInnen von spanischsprachigen TV-Programmen von 2010 auf 2011 um satte drei Prozent. Inzwischen ist der US-amerikanische spanischsprachige Fernsehsender "Unisono" mit seinen täglich rund 2 Mio. ZuschauerInnen in der Prime-Time die fünftgrößte TV-Anstalt der Vereinigten Staaten. Auch spanischsprachiges Radio erfreut sich nach wie vor einer großen Beliebtheit: Im Jahre 2009 gab es 1.323 spanischsprachige Radiosender in den USA. Und schließlich erfreuen sich bei hispanischen Frauen viele spanischsprachige Modemagazine einer ungebremsten Beliebtheit: "People en Español", "Latina", "TV y Novelas", "Vanidades", "Ser Padres" oder "Siempre Mujer".

"Integrationsfeindlich"?

Es ist diese hispanische Mediendynamik in Kalifornien, die sich seit Mitte der neunziger Jahre bei türkischen Medien auch in Deutschland beobachten lässt. Von politisch-konservativer Seite als "Medienghetto" und von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als "integrationsfeindlich" abgeblockt und abgestempelt, entwickeln sich türkische, türkischsprachige und/oder deutsch-türkische Medien in Deutschland ganz von alleine und fast ohne Zutun von deutscher Seite.

Mittlerweile gibt es da viele Produkte im Bereich der Printmedien. An erster Stelle ist hier auf die unendliche große Anzahl kostenloser Anzeigenblätter in türkischer Sprache zu verweisen, die es seit Mitte der achtziger Jahre, oft in der Hand deutscher Verleger, gibt. Und diese Zeitungen, die wie "Haftalik Posta" im Bergischen Land häufig in türkischen Geschäften und Kaffee- und Teestuben aufliegen, erscheinen oft in einer Auflage, die weit über der von redaktionell gestalteten Zeitungen liegt. Zwar bieten solche Zeitungen keine ernsthaft recherchierten journalistischen Artikel an, dafür umso mehr billige Agenturmeldungen, kostenlose Leserbriefe und Erfahrungsberichte von LeserInnen und selbstverständlich große und kleine Anzeigen en masse. Doch gerade für sprachbelastete MigrantInnen bieten diese kostenlosen Annoncezeitungen eine Vielfalt sinnstiftender Leseerlebnisse: Kurze Texte kommen dem Bedürfnis nach Einfachheit entgegen, zahlreiche Annoncen in der Muttersprache erlauben ein Ausweichen vom Direkteinkauf in deutschen Geschäften zu türkischem Versandhandel und außerdem eröffnet sich den Lesenden über die Teilhabe an einem bunten Anzeigenmarkt auch die Teilhabe an sozialen Netzen unter Ihresgleichen. Daneben gab und gibt es deutschsprachige Lifestyle-Magazine wie "etap", ein Magazin für modernes deutschtürkisches Leben, "Turkis", ein Magazin mit türkischem TV-Programm, "Hayat", das in deutscher Sprache bevorzugt homosexuelle Türken anspricht, "detay", eine Stadtzeitung für Duisburg, "Türk Ekonomi Dergisi", eine Zeitschrift für türkische Wirtschaft oder die seit kurzem in Essen erscheinende Online-Zeitung "Mavi Gazete", eine "monatliche Stadt- und Kulturzeitung in türkischer und deutscher Sprache für NRW", wie sie sich im Untertitel nennt (www.maviverlag.de).

Das Ende der Patriarchen

Der Markt dieser Szene ist jung und unruhig, es gibt viele neuartige Versuche und selbstverständlich auch Flops, Bankrotte und große Anlaufverluste. Offen, unruhig und noch ungeklärt ist die Frage der Sprache, mit der dieser Markt arbeitet. Manche Produkte erscheinen in Deutsch, andere in Türkisch und andere in Deutsch-Türkisch bi-lingual – so wie schon die kaum bekannte deutsch-türkische Zeitschrift "Die neue Türkei" aus dem Berlin des Jahres 1917. Mit einem eigenartigen sprachlichen Mischmasch aus Deutsch und Türkisch – die Potsdamer Professorin Heike Wiese nennt diesen Dialekt "Kiezdeutsch" – triumphierte in den neunziger Jahren die Hip-Hop-Gruppe "Cartel" und der deutsch-türkische Schriftsteller und Sozialkritiker Feridun Zaimoglu glänzte mit seinem Werk "Kanak Sprak" – bissig nennt der Autor dieses Buch im Untertitel "24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft" – schon 1995.

Der, ach, so wohl meinende Sozialarbeitertouch der links-liberalen MultiKulti-RedakteurInnen beim öffentlich-rechtlichen SFB hatte gegenüber der Radiorealität von türkischer Musik, türkischen DJs, türkischen NachrichtensprecherInnen und ausschließlich türkisch-regionalen Bezügen verloren.

1999 geschah dann im Radiosektor eine deutsch-türkische Medienrevolution: Mit Radyo Metropol FM in Berlin startete das erste rein türkischsprachige Radio Deutschlands und nahm dem öffentlich-rechtlichen Radioprogramm MultiKulti beim Sender Freies Berlin (SFB) – quasi über Nacht – praktisch alle deutsch-türkischen HörerInnen weg. Der, ach, so wohl meinende Sozialarbeitertouch der links-liberalen MultiKulti-RedakteurInnen beim öffentlich-rechtlichen SFB hatte gegenüber der Radiorealität von türkischer Musik, türkischen DJs, türkischen NachrichtensprecherInnen und ausschließlich türkisch-regionalen Bezügen verloren. In der deutsch-türkischen Medienszene war dies das Ende des benevolenten Patriarchenmodells à la ARD; türkische Radiomacher siegten über deren "besorgte" deutsche Stellvertreter. Nochmals anders formuliert: Es war dies ein Sieg des Marktes über Pädagogik und Political Correctness. Mittlerweile verfügt Radyo Metropol FM über fünf Lizenzen in drei Bundesländern, nämlich die für Berlin, Ludwigshafen, Stuttgart, Mainz und Koblenz und insgesamt rund 450.000 türkische Menschen können das Programm dieses Radiosenders hören.

Von Print zum Fernsehen

Aus medienökonomischer Sicht ist es leicht nachvollziehbar, dass eine Ethnisierung der deutsch-türkischen Medienlandschaft beim billigsten Medium anfing und erst später beim teuersten Medium landete. So verlief die Dynamisierung dieses Nischenmarktes entlang der Linie Zeitung->Radio->Fernsehen. Es dauerte bis zum Jahr 2005 bis mit dem Duisburger TV-Sender Kanal Avrupa ein deutsch-türkischer TV-Kanal einen regionalen TV-Markt für sich erobern konnte. Dieser Sender gehört einem Deutschtürken, der früher rund 80 Prozent der Vermarktung aller türkischen Musik-Kassetten in Deutschland kontrollierte und außerdem die Vermarktungsrechte an vielen türkischen Popstars erwerben konnte. Entsprechend bietet sein TV-Sender, genau wie Radyo Metropol FM, ein unterhaltungsorientiertes Spartenprogramm mit viel Musik an. Möglicherweise konnte sich ein TV-Sender wie Kanal Avrupa aber auch nur deswegen so schwer und mit vielen Schwierigkeiten etablieren, weil die deutsch-türkische Bevölkerung in Deutschland seit langem gut von TV-Sendern aus der Türkei versorgt wird. Hier decken gegenwärtig allein die drei türkischen TV-Sender Euro D (Kanal D), ATV und Euro Star (Star TV) gut 45 Prozent der Marktanteile aller deutsch-türkischen TV-Haushalte ab. Nach den langjährigen Forschungsarbeiten des Berliner Forschungsinstituts Data4U (www.data4u-online.de), das sich als einziges deutsches Institut nur auf TV-Reichweitenmessung von türkischen TV-Sendern spezialisiert hat, spielen ARD und ZDF seit langem so gut wie keine Rolle mehr in deutsch-türkischen Haushalten und nach weiteren Forschungsergebnissen dieses Instituts sehen rund 30 Prozent aller deutsch-türkischen Haushalte lieber türkisches als deutsches Fernsehen. Diese TV-Präferenz bleibt seit langem stabil, unabhängig vom Alter der TV-ZuseherInnen und damit auch unabhängig von der Länge der Aufenthaltsdauer in Deutschland. Was Data4U hier für deutsch-türkische Haushalte ermittelt hat, deutet sich seit kurzem auch für kroatische, polnische und russische MigrantInnen in Deutschland an. Auch deren Fernsehnutzung konzentriert sich auf muttersprachliche Angebote.

Man kann konservativen Medien-Ideologen gerne weiterhin die Werte Völkerfreundschaft, Dialog und Integration als leere Worthülsen überlassen – die Realität hat freilich eine andere Medienwelt des Ethno-Marketing geschaffen, die den Weg zu diesen Werten über den Umweg einer Selbstversicherung in den Medien der eigenen Muttersprache geht.

Zum Autor
Prof. Dr. Jörg Becker, Hochschullehrer an den Instituten für Politikwissenschaft der Universitäten Marburg und Innsbruck (1999–2011). Geb. 1946 in Bielefeld, Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Pädagogik in Marburg, Bern und Tübingen. Arbeitsgebiete: Internationale, vergleichende und deutsche Kommunikations-, Medien- und Kulturforschung, Technologiefolgenabschätzung und Friedensforschung; dazu zahlreiche Veröffentlichungen in mehr als zehn Sprachen.

 


Weiterführende Literatur

  • Ates, Seref: Deutsch-türkische Medienbeziehungen (1999-2009), Würzburg: Königshausen & Neumann 2011.
  • Becker, Jörg und Behnisch, Reinhard (Hrsg.): Türkische Medienkultur in Deutschland. 3 Bde., Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum 2000-2003.
  • Becker, Jörg: Für Vielfalt bei den Migrantenmedien: Zukunftsorientierte Thesen, in: Bonfadelli, Heinz und Moser, Heinz (Hrsg.): Medien und Migration. Europa als multikultureller Raum?, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 43-52.
  • Becker, Jörg: Beantwortung der Fragen der Enquêtekommission "Migration und Integration in Hessen" zum Thema "Medien und Integration" im Hessischen Landtag am 13. Mai 2011, in: www.data4u-online.de/2011/06/beantwortung-der-fragen-der-enquetekommission-%E2%80%9Emigration-und-integration-in-hessen%E2%80%9C (Abruf am 14. November 2011).
  • Calagan, Nesrin Z.: Türkische Presse in Deutschland. Der deutsch-türkische Medienmarkt und seine Produzenten, Bielefeld: Transcript 2010.
  • Mualem Sultan, Marie: Migration, Vielfalt und Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk, Würzburg: Königshausen und Neumann 2011.
  • Pies, Judith Maria: "I can watch both sides" – media use among young Arabs in Germany, in: al-Hamarneh, Ala und Thielmann, Jörn (Hrsg.): Islam and Muslims in Germany, Leiden: Brill 2008, S. 395-421.
  • Wiese, Heike: Kiezdeutsch – ein neuer Dialekt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 8/2010, S. 33-38.


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[Artikel/zebratl/26.01.2012]





    Artikel/zebratl


    26.01.2012 Ein Plädoyer für ethnische Medien

    15.11.2011 Bewegung im Land

    14.12.2010 Schwerpunkt: „Es reicht für alle"

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