kig Kultur in Graz. Plattform f?r interdisziplin?re Vernetzungsarbeit.

Lesen Programm Kulturarbeit Kurse Ausschreibung Jobs ausLage ?ber uns Links




´^` zurück    ! neu...     * alle kategorien


Politik, Bildung und Sprache

Pierre Bourdieu
Politik, Bildung und Sprache

Interview mit Pierre Vianson-Ponté in: "Le Monde", 11./12.10.1977
(Übersetzung: Heinz H. Schmidt und Enno Schmitz)

Erstaunlicherweise begegnet man in der politischen Öffentlichkeit einer Arbeitsteilung, die jener ähnlich ist, die wir auch in der darstellenden Kunst und Literatur beobachten. In der Politik ist diese Arbeitsteilung lediglich besser versteckt. Ohne viel darüber nachzudenken, akzeptiert man in der Politik wie auch anderswo die Trennung der Menschen in solche, die kompetent sind und solche, die inkompetent sind - eine Trennung von Laien und Professionellen. Zu den letztgenannten zähle ich natürlich "die Politiker", Journalisten und im weiteren Sinne auch die Intellektuellen, die allesamt ein Monopol darauf haben, die politische Diskussion zu führen und zu bestimmen, was als politisches Problem zu gelten hat.
Ich denke, dass es darauf ankommt, immer wieder die Legitimität dieser politischen Enteignung der Laien und dieser Übertragung von Macht an Experten anzuzweifeln. Dabei muss mitgedacht werden, dass Enteignung und Übertragung sich gegenseitig ergänzen.

Ist die politische Sprache also eine elitäre Sprache, eine Sprache nur für Eingeweihte?

So wie es eine Welt der Kunst gibt, so gibt es eine Welt der Politik mit einer eigenen Logik und Geschichte. Diese Welt der Politik beansprucht für sich eine relative Autonomie mit eigenen Problemdefinitionen, eigener Sprache und ganz spezifischen Interessen. Damit ist das bezeichnet, was ich in meiner Terminologie ein Feld (un champs) oder einen Handlungsraum nenne. Um darin mitspielen zu können, muss man eine bestimmte Sprache beherrschen und über eine bestimmte Kultur verfügen...

Gilt, was Sie über die Politiker gesagt haben, nicht auch für den Intellektuellen oder vielmehr für einige Kategorien von Intellektuellen...?

Die Intellektuellen haben alle Anteil an diesem Monopol auf Meinungsäußerung. Es kann jedoch vorkommen, dass Intellektuelle, wie z.B. berufsmäßige Soziologen, dieses Vorrecht dafür zu nutzen versuchen - ich sage bewusst versuchen -, um jenen das Wort zu geben, die ansonsten sprachlos bleiben. Das bringt sie übrigens in den Augen der anderen Intellektuellen in den Verdacht, platt und unreflektiert zu sein. Was diejenigen angeht, die zu den "Neuen Philosophen" gezählt werden, so denke ich, dass sie sich entsprechend dem augenblicklichen Zeitgeschmack dem Bild des herkömmlichen Intellektuellen anpassen. Tatsächlich aber stehen die Intellektuellen heute vor einer in der Geschichte zweifellos einzigartigen Herausforderung: Um sich zu rechtfertigen, beruft sich die herrschende Klasse auf eine ihr eigene fachliche Kompetenz und manchmal sogar auf eine entsprechende Wissenschaftlichkeit; sie rühmt sich sogar einer ihr eigenen "Begabung"...
So erklärt sich auch das etwas triumphierende und zugleich naiv - kindliche Verhalten des Technokraten: Er bleibt stumm und blind gegenüber seiner Umwelt. Er herrscht und verwaltet stur nach den ökonomischen Handbüchern, die er manchmal auch noch selbst geschrieben hat. Seine ganze politische Philosophie enthüllt sich in der Art und Weise, wie er Informationen über ökonomische Prozesse weitergibt: Das sind Informationen, die die Laien zu kennen haben, damit sie die ökonomischen Entscheidungen und Prognosen der Sachverständigen verstehen und so auch akzeptieren können. Das sind also die Gegner, mit denen die herkömmlichen Intellektuellen, und insbesondere die Philosophen, im Streit stehen um das Monopol, symbolische Darstellungen der sozialen Wirklichkeit zu formulieren.

Kann man also sagen, dass jener Intellektuelle, der "Bescheid wusste", der Kultur hatte und der die Schlüssel der Erkenntnisse in der Hand hielt oder dem zumindest derartiges unterstellt wurde, abgelöst wird von einem "praktischen Intellektuellen", der der Lebenspraxis näher steht...?

Ja, die herkömmlichen Intellektuellen sollten auch mit jenem neuen Typus von Intellektuellen rechnen, die ich als Experten, als Intellektuelle für irgendwelche Dienstleistungen bezeichnen würde. Diese sind eher Meister des Handelns als Meister der Reflexion, und die geben vor, die "politische Wissenschaft", das heißt die Wissenschaft von der Politik, zu beherrschen. Früher konnte man eine Trennungslinie ziehen zwischen dem "Künstler" (oder dem "Intellektuellen") und dem "Künstler" (oder dem "Intellektuellen") und dem "Bürger". Statt dieses deutlichen Gegensatzes haben wir heute einen gleitenden Übergang von den Generaldirektoren - die, wie die Statistik zeigt, immer häufiger über ein Diplom verfügen - und den hohen Staatsbeamten bis zu den sogenannten "freien Berufen". Daneben gibt es noch die Experten, die in öffentlichen oder in privaten Diensten stehen und in ihrer materiellen Existenz von öffentlichen oder privaten Arbeitsverträgen abhängen. So ist es gekommen, dass den "reinen Intellektuellen" nichts bleibt als die großen Prophezeiungen, die sich allerdings im Zeitalter der Massenmedien bereits erfüllen. Das heißt, die große moralische Geste des Intellektuellen gerät ins Lächerliche und häufig genug nimmt sie verbitterte Züge an.

Man hat den Soziologen oft vorgeworfen, sie sähen die Dinge zu pessimistisch. Meinen sie, dass Soziologen nichts anderes tun sollten, als das zu beschreiben, was ist?

Es würde mir leicht fallen, zu antworten, dass die Kenntnis der Regelhaftigkeit gesellschaftlicher Strukturen (die auf der politischen Rechten gerne "naturgegebene Trägheit der sozialen Verhältnisse" genannt werden, um damit eigene Untätigkeit oder politisches Unvermögen zu rechtfertigen) unabdingbar ist, um diese Strukturen verändern zu können. Die Wahrscheinlichkeit einer Handlung oder eines Phänomens zu kennen, kann auch heißen, die Chancen jener Aktionen zu vergrößern, die darauf abzielen, die Realisierung eben dieses Phänomens zu verhindern. Aber das ist nicht alles. Viele soziale Mechanismen sind nur deshalb so wirksam, weil sie verkannt und unterschätzt werden. Das ist zum Beispiel bei den "Mechanismen" der Fall, die die Kinder aus denjenigen Familien, die ökonomisch und kulturell benachteiligt und Opfer der sozialen Ungleichheit sind, am stärksten daran glauben, dass Begabung und Tüchtigkeit die einzig ausschlaggebenden Faktoren für den Schulerfolg sind. Man sieht also, dass feine Wissenschaft, die enthüllt und demaskiert - "es gibt nur eine Wissenschaft, und das ist die Wissenschaft vom Verborgenen", sagt Bachelard - aus sich heraus wichtige Veränderungen bewirken kann. Dies gilt natürlich nur unter der Bedingung, dass die Betroffenen, deren Interessen am stärksten auf diese Veränderungen drängen, auch an diesen wissenschaftlichen Einsichten teilhaben. Aber hier ein Wort zu dem, was man meinen Pessimismus nennt, was aber nichts anderes als Realitätssinn ist: die für diese Teilhabe erforderliche Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse gehorcht natürlich nur den allgemeinen Regeln, die den Zugang zu kulturellen Erfahrungen steuern. Und so ist umso wahrscheinlicher, dass gerade diejenigen, die in extremster Weise "kulturell enteignet" sind, ein Wissen über eben diese "kulturelle Enteignung" erwerben sollten.

Kann man, anders ausgedrückt, sagen, dass der hier angesprochene Diskurs, der die Dinge in ihrer wirklichen Erscheinung darstellt und sie von Schönfärbereien befreit, auch eine politische Wirkung besitzt?

Wir neigen dazu, die Wirksamkeit derjenigen formen von Macht zu unterschätzen, die mit der symbolischen Gewalt zusammenhängen. Der Ökonomismus spukt in den Köpfen der gesamten politischen Intelligenz herum und hat so einer bestimmten fatalistischen Einstellung Vorschub geleistet: Wenn die Gesellschaft nur noch entsprechend der ökonomischen Denkweise gesehen werden darf, dann verlieren auch alle gesellschaftlichen Gruppen ihren bislang legitimen Anspruch, sich selbst als spezifische Gruppen innerhalb der Gesellschaft zu organisieren und darzustellen. Ich denke, dass Politik etwas anderes wäre und politische Aktionen eine ganz andere Wirksamkeit gewännen, wenn jedermann davon überzeugt wäre, dass es an ihm selbst liegt, seine eigenen politischen Angelegenheiten in die Hände zu nehmen und dass niemand kompetenter ist als er selbst, um sein persönlichen Interessen wahrzunehmen. ...
Man sollte jede Mühe dransetzen, um allen fühlbar zu machen, wie sehr persönliche Angelegenheiten jeden einzelnen persönlich angehen und dass es darum geht, in diesen scheinbar abstrakten politischen Angelegenheiten sich selbst mit allen lebenspraktischen Problemen wiederzuerkennen. Und politische Angelegenheiten sind - so verstanden - sehr Verschiedenes: Nicht nur die Kontrolle über die Entscheidungen in den Unternehmen, sondern ebenso auch die innerbetrieblichen Beziehungen unter den Arbeitenden; nicht nur die Planung der Autobahnen, sondern auch etwa die gegenseitigen Beschimpfungen der Autofahrer. Wenn vom Klassenkampf die Rede ist, denkt man niemals an seine ganz alltägliche Formen, an die rücksichtslose gegenseitige Verächtlichmachung, an die Arroganz, an die erdrückenden Prahlereien mit dem "Erfolg" der Kinder, mit den Ferien, mit den Autos oder anderen Prestigeobjekten, an verletzende Gleichgültigkeit, an Beleidigungen usw.: Soziale Verarmung und Vorurteile - letzte sind die traurigsten aller sozialen Leidenschaften - werden in diesen alltäglichen Kämpfen geboren, in denen stets die Würde und die Selbstachtung der beteiligten Menschen auf dem Spiel stehen. Das Leben ändern, das müsste auch heißen, die vielen kleinen Nichtigkeiten zu ändern, die das Leben der Leute ausmachen und die heute gänzlich als Privatangelegenheit angesehen und dem Geschwätz der Moralisten überlassen werden.

Sie arbeiten an einer Theorie des kulturellen und symbolischen Kapitals und sie wollen damit dazu beitragen, den Ökonomismus und den Missbrauch symbolischer Formen zu bekämpfen.

Ja, der Ökonomismus führt zu Revolutionen, die bei Teilerfolgen stecken bleiben oder misslingen. Der Stalinismus, der immer noch in so mancher Diskussion zutage tritt, ist ebenfalls eine Form von wissenschaftlichem Utopismus, der pathologisch an die Macht der Sozialwissenschaften glaubt - genauer gesagt an eine Sozialwissenschaft, die, bevor sie sich richtig entfalten konnte, bereits zu Schlagworten und Losungen verstümmelt worden ist. Aus der Geschichte der Sozialwissenschaften können wir lernen, wie beschränkt jedes praktische Handeln ist, das sich bloß von einer einzigen Theorie anleiten lässt. Die Wissenschaftsgläubigkeit birgt in sich immer auch die Möglichkeit des Terrorismus als Mittel bürokratischer Herrschaft. Im Laufe ihrer Entwicklung hat die Sozialwissenschaft ihre eigenen Grenzen erfahren.

Sie nehmen also an, dass es zwischen den politischen Parteien, und zwar allen Parteien, und den Massen der Bevölkerung zu einer vollständigen Trennung gekommen ist?

Grob vereinfacht könnte man sagen, dass die sowohl in ökonomischer als auch in kultureller Hinsicht am stärksten benachteiligten sozialen Gruppen beim gegenwärtigen Stand der Arbeitsteilung im Bereich politischen Handelns keine andere Chance haben, als ihr Schicksal den Parteien zu überlassen. Dies bedeutet aber, dass die Parteien in der Lage sind, zugleich das Angebot an politischen und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen festzulegen und andererseits auch zu bestimmen, welche Forderungen der Betroffenen nach diesen Leistungen legitim sind.

Noch eine abschließende Frage zur Politik, bevor wir zu Problemen der Kultur kommen: Denken sie, dass sich die politische Diskussion eher vereinfachen und damit die Kommunikation verbessern wird, oder besteht die Gefahr, dass sich jene Missverständnisse und Kommunikationsschwierigkeiten, von denen sie gesprochen haben, verstärken werden?

Leider sehe ich nicht besonders viele Anzeichen für einen Stilwechsel in der Politik. Jedes Sprachsystem ist immer ein Mittel des Ausdrucks, aber zugleich auch ein Mittel der Zensur. Paradoxerweise besteht eine Sprache immer aus jenen Dingen, die sie auszusprechen erlaubt, aber auch aus jenen, die sie auszusprechen und zu denken verbietet, die aber von anderen Sprachsystemen wiederum ausgelassen werden... Das Leben zu ändern, das heißt also auch, die Art und Weise, wie wir über dieses Leben sprechen und denken, zu ändern. Aus meiner Sicht existieren die sozialen Klassen und die hierarchische Unterordnung und Überordnung von Menschen immer in zweifacher Weise: einmal in der Realität und einmal in den Köpfen der Menschen. Selbst wenn diese Klassen und Hierarchien einmal aufhören sollten, in Wirklichkeit zu existieren, dann würden sie dennoch wohl schnell wieder Wirklichkeit werden, weil die Menschen, in deren Köpfen sie weiter herumspuken, sie immer wieder in die Realität projizieren würden.

Wenn sie einverstanden sind, versuchen wir jetzt zu Problemen des kulturellen Systems vorzugehen, mit denen sie sich ja in ihrer Forschung vor allem befassen. Sind die Schwierigkeiten politischer Kommunikation, auf die sie hingewiesen haben, nicht eigentlich noch spürbarer für die Jugendlichen in ihrer sozialen Existenz außerhalb und innerhalb der Schule?

Ich denke, dass viele Fragen nach der Lage der Jugend begrifflich genauer und konsequenter gestellt werden können, wenn man zunächst einmal das Bildungssystem und vor allem die Beziehung zwischen dem Bildungssystem und dem ökonomischen System untersuchen würde. Das Unbehagen, um nicht zu sagen, die Revolte der Jugend erklärt sich zum großen Teil aus dem ungleichzeitigen Entwicklungstempo des Bildungssystems im Vergleich zu den anderen gesellschaftlichen Bereichen. Die Schule als Institution ist in ihrem Wandel durch eine außerordentliche Trägheit gekennzeichnet. Diese Krise des Bildungssystems spiegelt nur eine tieferliegende Krise wider. Wenn die Schule den Heranwachsenden das Bild einer alten und traurigen Welt vermittelt, dann liegt das daran, dass diejenigen, die in dieser Welt das Sagen haben - und man sollte nicht fälschlicherweise diese mit der Gesamtheit der Erwachsenen oder der Lehrer verwechseln - nicht mehr wissen, was es wert ist, weitergegeben zu werden. Ja, sie wissen nicht einmal, dass sie dies nicht mehr wissen.

Sie meinen, die heutige Jugend sei traurig?

Von Paul Nizan stammt der Satz: "Ich war zwanzig Jahre alt und ich habe niemandem erlaubt zu sagen, dies sei die schönste Zeit meines Lebens." Wenn dieser Satz auch für die heutige heranwachsende Generation noch seine Richtigkeit hat, dann vor allem deshalb, weil es für niemanden zu ertragen ist, in diesem Alter der neuen Projekte und Ideen feststellen zu müssen, dass es keine solchen Projekte und keine Chancen gibt, durch Erfahrung den dingen auf den Grund zu gehen. Wenn es keine solchen Projekte gibt, bleibt den Jugendlichen nur die blanke Konkurrenz gegeneinander, die erbitterter denn je geführt wird. Dann werden nur noch Mengen eines Wissensstoffs angehäuft, um die Auslese unter den Schülern noch effizienter zu gestalten, oder um sie noch besser zu drillen, nicht aber um das Wissen in einer gesellschaftlich nützlichen Weise oder für eine vernünftige Entwicklung der Persönlichkeit zu entfalten.

Damit kommen sie aber auch auf die Anpassung des Bildungssystems an das ökonomische System zu sprechen.

Selbstverständlich geht es nicht darum, jenen interessierten Klagen von Unternehmervertretern das Wort zu reden, die, wenn sie davon sprechen, das Bildungssystem habe sich falsch entwickelt, ihm jedoch nur vorwerfen, weniger fügsame Arbeiter zu produzieren, als es die betriebliche Personalpolitik wünscht. Diesen geht es doch vor allem darum, dass die Arbeitskräfte eher bereit sind, auf die ihnen durch ihre schulischen Abschlüsse garantierten höheren Löhne zu verzichten. Die dem Bildungssystem und Arbeitsmarkt wirksamen Strukturbedingungen haben zu einer verschärften Disharmonie geführt: Der Wert der Ausbildungszertifikate, das heißt der Berufspositionen, zu denen sie berechtigen, ist heute beträchtlich gesunken auf einem Arbeitsmarkt, auf dem diese Zertifikate und Qualifikationen in einer unendlich viel größeren Zahl angeboten werden. Diese Entwicklung wirkt sich vor allem für diejenigen Inhaber von Ausbildungszertifikaten verhängnisvoll aus, die aus ökonomisch und kulturell benachteiligten Familien kommen und deshalb weniger in der Lage sind, ihre Zertifikate durch gute Beziehungen und Empfehlungen und Empfehlungen zur Geltung zu bringen. Und letzteres ist ja in mehr als nur einem Fall die heimliche Vorraussetzung dafür, um Zertifikate in ein gutes Einkommen umsetzen zu können.

Sie beschreiben hiermit also eine Art von Inflation schulischer Abschlüsse?

In einer Erhebung von 1970 hat sich in den USA gezeigt, dass 40 Prozent der weißen und 30 Prozent der schwarzen Arbeiter die Sekundarstufe der Schule absolviert haben. Ähnlich verhält es sich in Frankreich, wo der Anteil der Abiturienten selbst unter den Kindern aus Familien angelernter Arbeiter fortwährend zunimmt. Die Jugendlichen, die ihre Zertifikate erst noch bekommen müssen, und unter ihnen insbesondere jene aus den nichtbürgerlichen Klassen, müssen zu der berechtigten Annahme kommen, dass man ihnen ungedeckte Wechsel "angedreht" hat. Und diejenigen Erwachsenen, die ihre ökonomischen, sozialen und politischen Positionen allein ihren Bildungsabschlüssen zu verdanken haben, sind ihrerseits wohl am wenigsten berufen, um den Jugendlichen vorzuwerfen, sie akzeptierten nicht die ihnen angebotenen Beschäftigungsmöglichkeiten. Es versteht sich von selbst, dass die Abwertung der Bildungsabschlüsse sehr ungleich ist und davon abhängt, wie groß die Stärke der sozialen und beruflichen Gruppen ist, die ihre Stellung in der Gesellschaft auf diese Titel stützen... Hinzuzufügen ist allerdings, dass alle diejenigen, die das Bildungssystem ohne Titel verlassen, heute weniger und weniger als ihre Eltern geneigt sind, das ihnen zugedachte soziale und berufliche Schicksal zu tragen. Diese abnehmende Bereitschaft, sich einem vorbestimmten Schicksal zu fügen, ist nicht zuletzt auf die Erfahrung mit einer studentischen Lebensweise zurückzuführen, die diese Jugendlichen gemacht haben und die bislang nur den Kindern der bürgerlichen Klasse vorbehalten war.

Ja, das haben sich schon 1964 in "Les Héritiers" (deutsch: Die Illusion der Chancengleichheit, Stuttgart 1971) aufgezeigt, wo sie darlegten, dass eine wirkliche Demokratisierung des Bildungssystems nicht allein von ökonomischen Faktoren abhängt. Dann kam der Mai 1968. eine wahre Flut von Reformen und Pseudoreformen hat sich über das Land ergossen. Kann man sagen, dass wir heute noch am selben Punkt stehen wie damals? Oder stehen wir heute wieder einer ständischen bzw. einer konservativen Tradition gegenüber?

In der Tat ist dies eine Frage von besonderem Interesse. Die Kultur und vielleicht mehr noch die schulischen Abschlüsse stellen eine Form von Kapital dar. Sie sind das Ergebnis einer Investition (sowohl im ökonomischen als auch im psychoanalytischen Sinne), die sich auszahlen muss. Und diejenigen, die diese Berechtigungsscheine in der Hand halten, verteidigen ihr "Kapital" und ihre "Profite", indem sie diejenigen Institutionen verteidigen, die ihnen dieses "Kapital" garantieren. Es ist verständlich, dass die hartnäckigsten Verteidiger der alten Bildungsinstitutionen unter den Altphilologen zu finden sind. Diese Lehrer verteilen Kulturgüter, deren "Vertrieb" sich nur lohnt, solange jener künstliche Markt besteht, auf dem entsprechende Prüfungen und Titel angeboten werden. Allein deshalb ist die ökonomische Betrachtungsweise der Kultur durchaus nicht begriffswidrig oder missbräuchlich (außer für diejenigen, die Kultur mit etwas Sakralem gleichsetzen, was wir alle mehr oder weniger tun). Diejenigen, die die plötzlich entwerteten Zertifikate und Qualifikationen (wie zum Beispiel die Lateinkenntnisse oder die "Allgemeinbildung", wie sie das französische Bildungssystem verteilt) in den Händen halten, können sich aber selbst nicht einmal gegen dieses System wenden. Sie sind Opfer dieses Bildungssystems, das ihnen zu allerhöchsten Kosten eine verfallenen Kultur anbietet und dabei sogar noch jene Reste dieser Kultur unterdrückt, die für Schüler und Studenten von Wert sein könnten.

Sie berühren damit das Problem der Lahrer. Aber sind nicht auch viele Erklärungen auf Seiten der Familie zu suchen?

Ja, selbstverständlich. Die Erhaltung sozialer Strukturen ist nicht bloß mechanischer Effekt sozialer Mechanismen. Ich betrachte die Schule nicht als eine Art Höllenmaschine, die die Kinder entsprechend vorbestimmter sozialer Gesetze "vorsortiert". Das, was wir als Verteilung sozialer Chancen statistisch messen, ist Ergebnis einer Erhebung von individuellen Strategien, die, auch wenn es den Betroffenen nicht bewusst wird, immer auch Strategien der Verwertung von Arbeitskraft sind: Die Wahl der Bildungseinrichtung, die Wahl des Fachbereichs, die Wahl eines guten Feriensprachkurses usw. Alle diese individuellen Auswahlentscheidungen summieren sich zu statistischen Regelmäßigkeiten, die zur Struktur einer jeden sozialen Klasse gehören.

Dies alles zu ändern wird lange dauern und ein äußerst schwieriges Unterfangen werden, wer auch immer die politische Macht in der Hand hat und wie gut auch immer seine Absichten sein mögen...

Das ist offensichtlich. Aber ohne dem Soziologismus das Wort reden zu wollen, der nur beschreiben kann, was - in doppeltem Sinne - unvermeidlich oder notwendig ist, so kann ich doch sagen, dass die soziologische Erkenntnis, was die Frage eines möglichen Wandels der Verhältnisse angeht, nicht zum utopischen Denken ermutigt.

In der Tat hält man die Soziologen ja häufig für die geheimen Drahtzieher der sozialen Wirklichkeit, die in dämonische weise die soziale Entwicklung unterstützen oder verhindern könnten.

Damit wird die Macht der Soziologen enorm überschätzt. Aber dieses falsche Bild lässt sich seinerseits soziologisch erklären. In der Tat ist es ja so, dass sich das, was wir als anerkannte Beschreibung der sozialen Realität akzeptieren, Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und Kämpfe ist. Und in diesen Kämpfen geht es stets darum, anderen eine Sicht der sozialen Lebenswelt aufzuzwingen, mit der sich die Ansprüche auf Ausübung einer bestimmten Form von Macht stützen lassen. In diesem Sinne kann Soziologie dazu dienen, Politik mit anderen Mitteln fortzusetzen. Diese Macht, wie sie zum Beispiel von Intellektuellen und Parteifunktionären ausgeübt wird, wird besonders in undurchsichtigen und schwer entscheidbaren Situationen, wie in sozialen Krisen sichtbar (das sind jene Situationen, die, wie die Religionsgeschichte uns zeigt, nach der prophetischen Rede verlangen): In krisenhaften Situationen wird die Voraussage von Entwicklungen zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung; das Sprechen über die Zukunft hilft aus der Zukunft das zu machen, was man von ihr sagt. Voraussagen sind immer Instrumente der Macht: die Zukunft der anderen vorauszusehen heißt auch sich selber Macht über diese anderen anzumaßen. Man braucht sich nur die Äußerungen von Landwirtschaftsplanern zu vergegenwärtigen, die das Verschwinden der Bauern als Berufsstand vorausgesagt haben, diese Äußerungen waren, indem sie eine "wahrscheinliche Zukunft" voraussagen, zugleich Empfehlungen für eine Entwicklung dorthin. Eine gesellschaftliche Gruppe von ihrem Abstieg zu überzeugen heißt, diesen Abstieg beschleunigt herbeizuführen. Derjenige, der sagt, was sein wird, trägt dazu bei, dass sein wird, was er sagt.
Die Politik drückt sich ständig in Vermutungen aus. Dies ist eine Sprache, die dazu beiträgt, dass andere tun, was gesagt wird, dass Wirklichkeit wird, was sie verkündet Die Soziologie kann sich dem nicht entziehen. Selbst wenn der Soziologe sich um eine feststellende Sprache bemüht, selbst wenn er nur aussagt, was ist, selbst dann trägt der Soziologe dazu bei, den Zustand der sozialen Verhältnisse als real erscheinen zu lassen. Selbst dann versteckt auch er unter der Formel einer bloßen Feststellung, was in Wirklichkeit nur ein Wille oder ein Wunsch ist.

Wenn sie zum Beispiel von Kultur sprechen, so spürt man die Versuchung, sie nach einem Vorschlag für eine neue Definition von Kultur zu fragen.

Alles, was ich zunächst sagen kann, ist, woraus Kultur gemacht wird oder was man aus der Kultur macht. In jeder Hinsicht ist Kultur Ergebnis eines Kampfes. Das versteht sich von selbst, weil mit der Idee der Kultur auch immer die menschliche Würde auf dem Spiel steht. Das bedeutet, dass in einer Klassengesellschaft diejenigen, die von der Kultur ausgeschlossen sind, auch in ihrer Würde und in ihrer menschlichen Existenz getroffen sind und sich getroffen fühlen. Diejenigen wiederum, die die Kultur besitzen oder sich zumindest in ihrem Besitz wähnen (der Glaube ist hier wesentlich) vergessen ständig all die Leiden und Erniedrigungen, die im Namen dieser Kultur geschehen. Die Kultur ist hierarchisch organisiert und sie trägt zur Unter - und Überordnung von Menschen bei, wie etwa ein Möbel - oder ein Kleidungsstück, an denen man sofort erkennen kann, auf welcher Sprosse der sozialen und kulturellen Hierarchie sein Besitzer steht. Im Bereich der Politik, aber nicht allein dort, verurteilen die offiziöse Kultur und der von ihr beanspruchte Respekt diejenigen zum Schweigen, die nicht als Träger dieser Kultur anerkannt sind. Um aber die sozialen Kämpfe und Auseinandersetzungen um die jeweilige Kultur vollständig erkennbar zu machen, muss man immer wieder hinweisen auf jene Illusion, die aus der immer auch sinnlich-materiellen Erscheinungsweise immer auch als sinnlich fassbare Äußerungen von Personen in Erscheinung treten, erweckt den Eindruck, als sei Kultur die natürlichste und die persönlichste und damit also auch die legitimste Form des Eigentums.

Wie sie gezeigt haben, trifft dies besonders für die Sprache zu...

Aber gewiss. So lässt sich das Schweigen derjenigen erklären, die nur die Wahl haben zwischen der ihnen fremden und aufgezwungenen "offiziösen Sprache" oder ihrer eigenen Umgangssprache. Und so lässt sich auf der anderen Seite die Selbstsicherheit jener erklären, die immer auf ihre "Leichtigkeit" im sprachlichen Ausdruck und auf die "natürliche Vornehmheit" ihrer Rede rechnen können...

Wir sind fast an unseren Ausgangspunkt, die Form des politischen Diskurses, zurückgekehrt. Ist die Lösung des politischen Problems also zunächst eine Frage der Sprache?

Ja, ich glaube, wenn man von der Linguistik spricht, muss man sich klar sein, dass man von Politik spricht. Und wenn man von Politik spricht, muss man wissen, dass es sich dabei auch immer um Sprache handelt. Sofern man überhaupt von einer spezifisch politischen Kompetenz sprechen kann, so ist es zweifellos die Fähigkeit, konkrete Probleme des Alltags in allgemeinen Begriffen auszudrücken. Es geht darum, eine Entlassung, einen Abbau von Arbeitsplätzen, eine Ungerechtigkeit oder einen Arbeitsunfall nicht als einen einzelnen Vorfall, als ein persönliches Erlebnis, sondern als ein kollektives Ereignis, das eine ganze soziale Klasse betrifft, darzustellen. Aber diese Verallgemeinerung ist nur möglich durch die Sprache, denn sie ist nur möglich durch Teilhabe an einer generellen Betrachtungsweise der sozialen Wirklichkeit. Deshalb sind Politik und Sprache eng mit einander verbunden. Man kann die übliche Traurigkeit der soziologischen Diskussion etwas aufheitern, ohne gleichzeitig naiv zu sein, wenn man ein wenig utopisch denkt. Und dann kann man zum Beispiel am Verhältnis von Politik und Sprache erkennen, dass es nicht unnütz ist, sich um Worte zu streiten und dass es sich lohnt, um die Ehrenhaftigkeit und um die Strenge im Gebrauch von Worten und um die offene und freie Rede zu streiten. Und es lohnt sich auch die Mühe des Kampfes, das allgemeine Recht auf die Freiheit der Rede bekannt zu machen - auf eine Rede, die diejenigen Erfahrungen wieder zu Sprache bringt, die in der Gesellschaft unterdrückt werden. Der politische Aktivist sollte nicht jemand sein, der Plakate klebt oder vorgeformte Parolen verbreitet. Es sollte jemand sein, der seine Sprache spricht, um etwas zu sagen, und der dies dann auch sagt. Der sich ausdrückt und der sich dafür einsetzt, dass Bedürfnisse ausgedrückt werden. Und es muss jemand sein, der das was er sagt, das was er tut und das was man ihn tun lässt, selbst in der Hand hat.


Aus: BOURDIEU, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1; Hrsg. von Margarete Steinrücke. VSA - Verlag, Hamburg, 1997 (1992), S 13-31.

...




[Artikel/vielosofis/29.05.2002]





    Artikel/vielosofis


    09.07.2009 Emma Goldman: Minderheiten weisen den Weg

    09.05.2009 Haubentaucher im Mai

    30.04.2009 Paul Scherbart: Die gebratene Ameise. Arbeitsspaß, 1902

    09.04.2009 Haubentaucher im April

    09.03.2009 Haubentaucher im März

    01.02.2009 Haubentaucher im Februar

    15.01.2009 Die Entführung aus dem Serail

    01.01.2009 Haubentaucher im Jänner: Dr. S., Honorar-Anwalt aus Nürnberg

    01.12.2008 Haubentaucher im Dezember: Chris Woodruff

    01.11.2008 Haubentaucher im November: Die Banker

    07.10.2008 Haubentaucher im Oktober: Wladimir Putin, mutterloses Waisenkind.

    07.08.2008 Haubentaucher im September: Wolfgang Egi

    06.08.2008 von instinkten, zombies, schönheit - Thomas Raab und Stefan Schmitzer im Gespräch

    04.08.2008 Haubentaucher im August: Ernst Happel junior.

    10.07.2008 haubentaucher: der inoffizielle Blog zur regionale08

    01.07.2008 Haubentaucher im Juli: Nicolas Sarkozy

    12.06.2008 Österreich als Türöffner für die Mullahs

    07.05.2008 Haubentaucher im Juni: Manfred Deix

    06.05.2008 Haubentaucher im Mai: Yoko Ono

    21.04.2008 Vom Vermögen - Gedanken zur sozialen Grundsicherung

    01.04.2008 Haubentaucher im April: Kein Scherz

    05.03.2008 Haubentaucher im März: Hans Krankl ist einer, Frau Merkel nicht

    01.02.2008 Haubentaucher im Feber: Musik liegt in der Luft

    12.12.2007 Haubentaucher im Dezember: Hier Frau Gorbach!

    31.10.2007 Haubentaucher im November: Auch Descartes hatte Schwächen

    01.10.2007 Haubentaucher im Oktober: William würgt wieder

    11.09.2007 Haubentaucher im September: Hülle und Fülle

    13.08.2007 Haubentaucher im August: Fleisch aus Kärnten

    03.07.2007 Haubentaucher im Juli: Tschau mit au

    04.06.2007 Haubentaucher im Juni: Going international

    06.03.2007 Haubentaucher im März: Harry, alter Stinkstiefel!

    07.02.2007 Haubentaucher im Februar: Wunder werden wahr

    09.01.2007 Haubentaucher im Jänner: Nichts ist älter als die Zeitung von heute

    03.10.2006 Haubentaucher im Oktober

    04.09.2006 Haubentauchers Wiedergeburt

    13.06.2006 Haubentaucher im Juni : Ein Mythos zum Strampeln

    02.04.2006 Haubentaucher im April: macht was er will

    07.03.2006 Haubentaucher im März: Von Montevideo bis Klagenfurt

    09.01.2006 Haubentaucher im Jänner: Fang das Licht, halt es fest!

    15.11.2005 Haubentaucher im November

    29.07.2005 Haubentaucher im August

    31.05.2005 Haubentaucher im Juni: Kreise, Körner, Knie

    02.05.2005 Haubentaucher im Mai: Muttertag, Kapitulation, Spargelsaison

    02.04.2005 haubentaucher im april: das schwein raus lassen

    20.01.2005 Daniel Diemers: Die Zukunft der Arbeit

    03.11.2004 Haubentaucher Exklusiv: Spinnt Graz?

    16.09.2003 Infokörperkult.

    29.06.2003 Disembodied Online

    24.05.2003 Dialektik der Einsamkeit

    30.12.2002 Der Ernst der Arbeit ist vom Spiel gelernt

    30.11.2002 Spürst du dich?

    17.11.2002 the trap door

    25.07.2002 Wie man gedacht wird. Die Dressierbarkeit des Menschen in der Postmoderne

    14.07.2002 Über hergestellte Dummheit und inszenierte Intelligenz

    29.06.2002 Der Mythos "Globalisierung" und der europäische Sozialstaat

    29.05.2002 Politik, Bildung und Sprache

    #modul=kig_rotation##where aktiv=1# #modul=kig_rotation#

    Volltextsuche
    KiG! Mailingliste: @

    CROPfm

    <#no_bild#img src={bild}>{text}
    <#no_bildklein#img src={bildklein}> {headline}





    KiG! lagergasse 98a - A - 8020 graz - fon & fax + 43 - 316 - 720267 KiG! E-Mail.