kig Kultur in Graz. Plattform f?r interdisziplin?re Vernetzungsarbeit.

Lesen Programm Kulturarbeit Kurse Ausschreibung Jobs ausLage ?ber uns Links




´^` zurück    ! neu...     * alle kategorien


Dialektik der Einsamkeit

Octavio Paz
Dialektik der Einsamkeit


Die Einsamkeit: das Gefühl und Bewusstsein, allein, der Welt und sich selbst fremd, ja von sich selbst getrennt zu sein, ist kein ausschließlich mexikanischer Seelenzustand. Alle Menschen fühlen sich irgendwann einsam: alle Menschen sind irgendwann einsam. Leben heißt sich trennen von dem, was wir waren, um uns in das zu verwandeln, was wir in einer unbekannten Zukunft einmal sein werden, und die Einsamkeit ist der tiefste Grund der Conditio humana. Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich einsam weiß, das einzige, das nach dem "andern" sucht. Seine Natur ­ sofern man bei ihm überhaupt davon sprechen kann, da er sich selbst gefunden hat, indem er nein zur Natur sagte ­ ist ein einziges Streben, sich selbst im "andern" zu verwirklichen. So ist der Mensch Sehnsucht und suche nach Kommunion. Immer wenn er sich selbst bewusst ist, fühlt er die Abwesenheit des "andern": die Einsamkeit.

Eins mit der sie umgebenden Welt, ist die Leibesfrucht reines, rohes, bewusstloses Leben. Erst bei der Geburt zerreißen wir die Bande mit dem blinden Dasein im Mutterleib, der keine Rast zwischen Lust und Erfüllung kennt. Unsere erste Empfindung vom Leben ist die der Trennung, des Bruches, der Verlassenheit, des Sturzes in eine feindliche oder wenigstens fremde Umwelt. Während wir heranwachsen, wandelt sich diese erste Empfindung in ein Gefühl der Einsamkeit, später in ein Bewusstsein: wir sind zum Einsamsein verurteilt, doch auch dazu, unsere Einsamkeit zu überwinden und die Bande wieder anzuknüpfen, die in paradiesischer Vergangenheit uns mit dem Leben verbanden. Alle unsere Anstrengungen richten sich in der Tat auf die Verdrängung der Einsamkeit, die eine doppelte Bedeutung hat. Einerseits Bewusstsein unserer selbst, andererseits Sehnsucht nach Befreiung von uns selbst. Die Einsamkeit, die eigentliche Bedingung unseres Daseins, ist die Reinigung und Prüfung, nach deren Bestehen Angst und Unbeständigkeit schwinden. Fülle, Vereinigung, Ruhe, Glück, Übereinstimmung mit der Welt erwarten uns am Ende des Labyrinths der Einsamkeit.

Die Sprache des einfachen Volkes spiegelt diesen Dualismus in der Gleichsetzung von Einsamkeit und Leid. Auch Leid der Liebe ist Leid in der Einsamkeit. Kommunion und Einsamkeit, Liebe und Sehnsucht widersprechen und ergänzen sich zugleich. Die erlösende Kraft der Einsamkeit lässt aber auch ein dunkles, lebendiges Gefühl der Schuld durchscheinen. Der einsame Mensch ist "aus der Hand Gottes gefallen". Einsamkeit wird zu Leid, Verdammnis, Sühne, Strafe, sie verheißt aber auch das Ende des Exils. Alles Leben ist von dieser Dialektik erfüllt. Geburt und Tod sind Erfahrungen der Einsamkeit: einsam werden wir geboren, und einsam sterben wir. Nichts ist folgenschwerer als jenes erste Eintauchen in die Einsamkeit der Geburt und der jähe Sturz in den unbekannten Tod. Das Wissen vom Tod verwandelt sich unversehens in Bewusstsein vom Tod. Kinder und primitive Völker glauben nicht an den Tod, genauer gesagt, sie wissen nichts von ihm, wiewohl er heimlich in ihnen wohnt.

Wir zivilisierten Menschen entdecken ihn früh genug, denn alles verkündet ihn, prophezeit ihn, und unser ganzes Leben ist eine tägliche Vorbereitung auf ihn. Mehr als leben lehrt man uns sterben ­ und das lehrt man uns schlecht. Kaum aus dem Leib der Mutter gestoßen, setzen wir zu einem wahrhaft beängstigenden Sprung an, der erst mit dem Sturz in den Tod endet. Heißt sterben dorthin zurückkehren: zum Leben vor dem Leben? Von neuem ein "Leben vor dem Leben" leben, in dem Ruhe und Bewegung, Tag und Nacht, Zeit und Ewigkeit keine Gegensätze mehr sind? Heißt sterben nicht mehr "werden", sondern "endgültig sein"? Vielleicht ist der Tod das wahre Leben. Vielleicht heißt geboren werden sterben - und sterben geboren werden. Wir wissen es nicht. Dennoch strebt unser ganzes Wesen danach, den Widersprüchen zu entfliehen, die uns zerreißen. Denn alles - Selbstbewusstsein, Vernunft, Sitte, Gewohnheit - versucht, uns aus dem Leben zu stoßen, und zugleich, uns zur Rückkehr, zum Abstieg in den schöpferischen Schoß zu zwingen, dem wir entrissen wurden.

Von der Liebe aber - die als Lust, Hunger nach Kommunikation, Hunger nach Untergang und Tod wie nach Wiedergeburt ist -, verlangen wir, sie möge uns ein Stück wahrhaftiges Leben, wahrhaftigen Tod schenken. Wir verlangen weder Glück noch Ruhe von ihr, sondern nur einen Augenblick - einen einzigen Augenblick - der Lebensfülle, in dem die Widersprüche sich auflösen und Leben und Tod nur Bewegungen, widerstreitende und zugleich sich ergänzende, der gleichen Wirklichkeit sind. Schaffen und Zerstören werden im Liebesakt eins: für den Bruchteil einer Sekunde ahnt der Mensch ein vollkommeneres Dasein.

In unserer Welt ist die Liebe eine schwer zugängliche Erfahrung. Alles stellt sich ihr entgegen: Moral, Klassen, Gesetze, Rassen, ja die Liebenden selbst. Die Frau ist Objekt, bald kostbar, bald schädlich, doch immer "anders". Indem sie der Mann zum Objekt, zum abseitigen Wesen macht und sie in allen Veränderungen unterwirft, die seine Neigung, Eitelkeit. Angst, Liebe ihm diktieren, wird sie zu einem Instrument. Als Mittel der Erkenntnis wie der Lust, als Weg zum Überleben ist die Frau - nach Simone de Beauvoir - Idol, Göttin, Mutter, Hexe, Muse, aber niemals sich selbst. Daher sind unserer erotischen Beziehungen von Anfang an verderbt und von der Wurzel her unrein. Zwischen uns und der Frau schwebt ein Truggespinst. Das des Bildes, das wir uns von ihr machen und mit dem sie sich umgibt, das wir nicht anrühren können wie Fleisch, da es kein Selbstgefühl hat. Zwischen uns und sie schiebt sich die geschmeidige, fügsame Vision eines sich hingebenden Körpers.

Und dasselbe geschieht der Frau: sie fühlt, begreift sich nur als Objekt, als das "andere". Nie ist sie Herrin ihrer selbst. Ihr Wesen ist gespalten in das, was sie wirklich ist, und das Bild, das sie sich von sich selbst macht: ein Bild, das ihr von Familie, Klasse, Schule, Konfession, von ihren Freundinnen und ihrem Geliebten eingeprägt worden ist. Ihr Frauentum kommt nie zum Ausdruck, denn es gibt sich in Formen kund, die vom Manne erfunden sind. Und die Liebe ist kein "Akt der Natur", sondern etwas Menschliches und per definitionem das Menschlichste schlechthin, ein Schöpfungsakt, den wir selbst vollziehen und der in der Natur nicht vorkommt, etwas, das wir jeden Tag neu erschaffen und jeden Tag wieder zerstören. Doch sind das nicht die einzigen Hindernisse auf dem Weg zur Liebe. Echte Liebe ist Wahl, vielleicht freie Wahl unseres Schicksals, plötzliche Entdeckung des geheimsten und schicksalhaftesten Teils unseres Wesens. Aber freie Wahl unseres Schicksals, plötzliche Entdeckung des geheimsten und schicksalhaftesten Teils unseres Wesens. Aber freie Wahl der Liebe ist in unserer Gesellschaft nicht möglich. André Breton sagt in "L`amour fou", einem seiner schönsten Bücher: "Zwei Einschränkungen verhindern von Anfang an die echte Wahl der Liebe: das gesellschaftliche Tabu und die christliche Idee der Sünde." Um sich zu verwirklichen, muss die Liebe das Gesetz der Welt durchbrechen. In unserer Zeit ist sie Skandal, Unordnung, Übertretung: zwei Sternen vergleichbar, die das fatale Gesetz ihrer Bahn missachten und sich im Raum begegnen. Die romantische Auffassung, zu der Bruch und Untergang gehören, ist die einzige, die wir kennen, denn alle Aspekte der Gesellschaft verbieten die Liebe als freie Wahl.

Die Frau lebt gefangen in dem Bild, das eine patriarchalische Gesellschaft ihr aufgedrängt hat; deshalb ist jede freie Wahl für sie ein Bruch mit sich selbst. "Die Liebe hat sie verwandelt, hat eine 'andere' aus ihr gemacht", pflegen Verliebte zu sagen. Und sie haben recht. Die Liebe verwandelt die Frau, denn sie hat Mut zur Liebe, zur Wahl, zum Selbstbewusstsein, muss sie das Bild zerstören, in dem die Welt ihr Wesen gefangen hält.

Auch der Mann hat keine freie Wahl. Der Kreis seiner Möglichkeiten ist klein. Als Knabe entdeckt er das Wesen der Frau in der Mutter oder Schwester. Und von dieser Zeit an ist die Liebe das Verbotene schlechthin. Unsere Erotik wird von dem schrecklichen Reiz der Blutschande gequält. Dazu erregt das moderne Leben über Gebühr unsere Sinnlichkeit, verhindert aber zugleich deren Befriedigung durch jede Art von Verboten: Der Klasse, Moral, Hygiene. Der Stachel der Lust, wie deren Verdrängung, schafft ein Gefühl der Schuld. Alles begrenzt unsere Wahl. Wir sind gezwungen, unsere tiefe Zuneigung dem Bild der Frau zu opfern, das unsere gesellschaftliche Umwelt uns aufgedrängt hat.

Es ist schwierig, Menschen anderer Rasse, Sprache, Klasse zu lieben, obwohl es doch vorkommt, dass Weiße Schwarze, diese wiederum Gelbe vorziehen und der "Herr" sich in seine "Magd" - oder umgekehrt - verliebt. Solche Möglichkeiten lassen uns zwar erröten. Da wir aber nicht frei wählen dürfen, wählen wir unsere Gattin aus den Kreisen. die "sich für uns schicken". Nie werden wir eingestehen, dass wir uns - manchmal für immer - mit einer Frau verbunden haben, die wir gar nicht lieben und die, selbst wenn sie uns liebt, nicht fähig ist, aus sich herauszugehen, um sich zu zeigen, wie sie eigentlich ist. Proust lässt Swann sagen: "Und der Gedanke, dass ich die besten Jahre meines Lebens mit einer Frau verloren habe, die nicht zu mir passte...." Das können die meisten modernen Männer in ihrer Todesstunde auf sich beziehen. Genau so die Frauen.

Die Gesellschaft fasst die Liebe - völlig gegen die Art dieses Gefühls - als eine feste Bindung zwecks Zeugung von Nachwuchs auf. Sie setzt sie mit der Ehe gleich. Jedes Überschreiten dieser Regel wird mit einer Strafe geahndet, deren Ausmaß entsprechend der Zeit und dem Ort wechselt: Bei uns ist es oft die Todesstrafe, wenn der unschuldige Teil die Frau ist. Denn in Mexiko, wie in allen hispanischen Ländern, herrschen mit allgemeiner Zustimmung zweierlei Arten von Moral: eine für den "Senor" und eine für die "andern", das heißt: die Armen, die Frauen und die Kinder. Der Schutz der Ehe ließe sich rechtfertigen, wenn die Gesellschaft eine echte Wahl zuließe. Da dies nicht der Fall ist, muss man zugeben, dass die Ehe nicht die höchste Verwirklichung der Liebe, sondern nur eine rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und anderen Zwecken dienende Form ist. Die Beständigkeit der Familie beruht demnach auf der Ehe, die zur bloßen Abbildung der Gesellschaft wird, ohne ein anderes Ziel als die Reproduktion derselben Gesellschaft zu haben. Daher ihr zutiefst konservatives Wesen. Sie angreifen, heißt die Grundlagen der Gesellschaft selbst angreifen. Aus demselben Grund ist die Liebe - ohne es zu wollen - ein antigesellschaftlicher Akt, denn jede ihrer Verwirklichungen bedeutet Ehebruch und macht sie zu etwas, was gegen den Willen der Gesellschaft ist: zwei Einsamkeiten, die sich einander öffnen, die ihre eigene Welt schaffen und damit die gesellschaftliche Lüge zerstören, Zeit und Arbeit aufheben und sich für autonom halten. So ist es nicht verwunderlich, dass die Gesellschaft die Liebe, mit demselben Groll wie die Poesie - ihr zuverlässigster Zeuge - verfolgt und sie in den Untergrund, an den Rand, in die düstere Welt des Verbotenen, des Lächerlichen und Abnormen drängt. Ebenso wenig ist es verwunderlich, dass Liebe wie Poesie in sonderbare, unvermischte Formen sich niederschlagen: einerseits in Skandal und Verbrechen, andererseits in Dichtung. Der Schutz der Ehe hat die Verfolgung der Liebe und die Toleranz gegen die Prostitution, wenn nicht gar ihre amtliche Billigung, zur Folge. Aufschlussreich bleibt jedoch die widersprüchliche Stellung der Prostituierten. Manchen Völkern ist sie heilig; wir aber verachten sie oder begehren sie. Als Karikatur - und Opfer! - der Liebe ist sie das Symbol der Mächte, die unsere Welt erniedrigen. Doch nicht genug der verlogenen Liebe, die die Prostitution in sich birgt: manche Kreise lockern die sogenannten "heiligen Bande der Ehe" bis zur Promiskuität. Vom Bett der einen zu dem der andern zu gehen, gilt nicht einmal als Ausschweifung. Und der Verführer, der als Mann nicht aus seiner Haut kann - die Frau ist immer nur Ausdruck seiner Eitelkeit und Unruhe -, ist heute eine Figur, die, wie der fahrende Ritter, der Vergangenheit angehört. Es gibt heute niemand mehr zu verführen, wie es auch keine Jungfrauen mehr gibt, die es zu schützen, oder Unholde, die es zu vernichten gäbe.

Die moderne Erotik hat einen anderen Sinn als etwa die Sades; Sade war ein tragisches, absolutheitsbesessenes Temperament. Sein Werk ist eine heftige Offenbarwerdung der Conditio humana. Nichts Hoffnungsloseres als seine Helden! Die moderne Erotik ist fast nur Rhetorik, ein wohlgefälliger literarischer Versuch. Sie ist keine Offenbarung des Menschen, sondern ein weiteres Dokument einer Gesellschaft, die durch Verbannung der Liebe zum Verbrechen verleitet wird. Suchen wir die Befreiung von der Leidenschaft? Die Scheidung ist jedenfalls keine besondere Errungenschaft mehr. Es handelt sich weniger um die Auflösung bestehender Bindungen als um die Möglichkeit freier Wahl für Frauen wie für Männer. In einer idealen Gesellschaft wäre der einzige Grund der Scheidung das Ende einer Liebe oder der Anfang einer neuen. Gäbe es freie Wahl, wäre die Scheidung ein Anachronismus oder eine Sonderbarkeit, wie Prostitution, Promiskuität oder Ehebruch. Die Gesellschaft gibt vor, eine Gesamtheit zu sein, die aus und für sich selbst lebt. Wenn diese sich auch als unteilbare Einheit begreift, so ist sie doch innerlich durch einen Dualismus gespalten, der seinen Ursprung vielleicht aus dem Moment der Loslösung des Menschen vom Tier ableitet, als dieser mit Hilfe seiner Hände sich selbst - das heißt, Selbstbewusstsein und Moral - schuf. Die Gesellschaft ist ja ein Organismus, welcher der sonderbaren Notwendigkeit unterworfen ist, seine Absichten und Begierden zu rechtfertigen. Manchmal fallen ihre Absichten, als Vorschriften der herrschenden Moral maskiert, mit den Begierden und Notwendigkeiten ihrer Glieder zusammen, zuweilen versagen sie sich auch den Bestrebungen wichtiger Minderheiten oder Klassen, und nicht selten ignorieren sie die eigentlichen Instinkte des Menschen. In diesem Falle tritt die Gesellschaft in eine Krise: sie explodiert oder stagniert. Ihre Glieder hören auf, Menschen zu sein, und verwandeln sich in bloße, seelenlose Instrumente.

Der jeder Gesellschaft innewohnende Dualismus, den jede zu überwinden trachtet, indem sie sich in eine Gemeinschaft verwandelt, kommt in unserer Zeit in vielerlei Gestalten zum Ausdruck. In Gut und Böse, Gebot und Verbot, Ideal und Wirklichkeit, Rationalismus und Irrationalismus, Schönheit und Hässlichkeit, Träumen und Wachen, Armut und Reichtum, Bürgertum und Proletariat, Unschuld und Schuld, Phantasie und Verstand. Von der unwiderstehlichen Dynamik ihres eigenen Wesens getrieben, versucht die Gesellschaft, diesen Dualismus zu überwinden und den Komplex einsamer Feindschaften, aus denen sie doch besteht, in harmonische Ordnung zu bringen. Die moderne Gesellschaft aber versucht, diesen Dualismus durch Unterdrückung jener "Dialektik der Einsamkeit" abzuschaffen, die allein die Liebe möglich macht.

Die Industriegesellschaften streben, ungeachtet ihrer ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Unterschiede, danach, qualitative Unterschiede, das heißt menschliche, in uniforme, quantitative umzuwandeln. Die Methoden der Massenproduktion gelten auch für Moral, Kunst, Gefühl. Widersprüche und Ausnahmen werden abgeschafft, und so verschließt sich der Zugang zur tiefsten Erfahrung, die das Leben dem Menschen zu bieten vermag und die in der Durchdringung der Wirklichkeit als einer Totalität besteht, in der die Widersprüche sich auflösen. Die neuen Mächte schaffen die Einsamkeit durch Dekret ab und damit die Liebe als geheime, gewagte Form der Kommunikation. Die Verteidigung der Liebe war immer ein antigesellschaftliches, gefährliches Unterfangen; jetzt beginnt sie gar ein revolutionäres zu werden. Das Problem der Liebe in unserer modernen Welt zeigt deutlich, wie sehr die Dialektik der Einsamkeit in ihrer tiefsten Kundgabe an der Gesellschaft selbst zu scheitern droht. Unser gesellschaftliches Leben lehnt fast jede Möglichkeit echter erotischer Kommunion ab.

Die Liebe ist eines der leuchtenden Beispiele jenes doppelten Instinktes, der uns antreibt, tief in uns hinein -, zugleich aber auch weit aus uns herauszugehen, um uns im "andern" zu verwirklichen. Sie ist Tod und Auferstehung, Einsamkeit und Kommunion. Das ist nicht alles. In jedem Menschenleben gibt es Zeiten des Bruches und der Vereinigung, der Trennung und der Versöhnung. Jeder dieser Momente ist ein Versuch, unsere Einsamkeit zu überwinden und in fremde Welten einzutauchen.

Das Kind wird einer unveränderlichen Wirklichkeit ausgesetzt, auf deren Reize es zuerst mit Schreien oder Schweigen reagiert. Sobald das Band zerrissen ist, das es mit dem Ursprung verband, versucht es, dieses durch Spiel und Gefühl wiederanzuknüpfen. Es beginnt ein Dialog, der erst mit dem Monolog des Todes endet. Doch sind die Beziehungen des Kindes nicht mehr so passiv wie im vorgeburtlichen Dasein, denn die Welt fordert zur Antwort heraus. Die Wirklichkeit will mit seinen Taten bevölkert werden. Dank des Spiels, der Phantasie erfüllt die leblose Welt der Erwachsenen - ob Stuhl, Buch oder irgend ein Gegenstand - sich für das Kind mit Eigenleben. Durch die Zauberkraft der Sprache oder der Geste, des Zeichens oder der Tat schafft es sich eine lebendige Welt, in der die Gegenstände auf seine Fragen Antwort geben. Die Sprache, noch bar aller abstrakten Bedeutung, hört auf, nur Zeichenbündel zu sein, um ein feingliedriger Organismus von magischer Kraft zu werden. Zwischen Name und Sache gibt es keinen Unterschied, und ein Wort aussprechen heißt die Wirklichkeit in Bewegung setzen, die es bezeichnet. Die Darstellung kommt einer wahrhaften Wiedererschaffung des Gegenstandes gleich, genau wie für den Primitiven eine Plastik keine Darstellung, sondern ein Doppel des Dargestellten bedeutet. Sprechen wird somit eine wirklichkeitsschaffende, also eine poetische Tätigkeit. Durch die Magie schafft das Kind sich eine Welt nach seinem Bild und sprengt dadurch seine Einsamkeit. Es wird mit seiner Umwelt eins. Der Konflikt bricht erst aus, sobald es aufhört, an die Macht seiner Worte oder Gesten zu glauben. Denn Selbstbewusstsein beginnt als Misstrauen in die magische Wirksamkeit unserer Mittel.

Das Jünglingsalter bedeutet den Bruch mit der kindlichen Welt, zugleich auch eine Pause an der Schwelle zur Welt der Erwachsenen. Eduard Spranger nennt die Einsamkeit ein Kennzeichen des Jünglingsalters. Der einsame Narziss ist das Abbild des Jünglings. In diesem Alter wird der Mensch sich erstmals seiner Besonderheit bewusst. Die Dialektik der Gefühle stellt erneut sich ein: Als gesteigertes Selbstbewusstsein kann das Jünglingsalter nur durch Selbstvergessen und Selbsthingabe überwunden werden. Daher ist das Jünglingsalter nicht nur das Alter der Einsamkeit, sondern auch die Zeit der großen Liebe, des Heldentums, des Opfers. Verständlicherweise stellt sich das Volk den Helden wie den Liebenden in jugendlicher Gestalt vor. Die Vorstellung vom Jüngling als dem Einsamen, dem Verschlossenen, dem von Lust oder Scheu Gequälten löst sich oft im Bild einer Gruppe tanzender, singender, marschierender junger Leute oder in dem eines unter grünen Arkaden einer Allee dahinschlendernden jungen Pärchens auf. Dann öffnet sich der Jüngling der Welt, der Liebe, der Tat, der Freundschaft, dem Sport, dem Abenteuer. Die moderne Literatur - mit Ausnahme der spanischen, wo fast nur Picaros auftreten - ist voll einsamer junger Menschen, die nach Kommunion suchen: nach Ring, Schwert, Vision. Die Jugendzeit bedeutet Innehalten vor dem Auszug in die Welt der Taten.

Die Reife dagegen ist keine Zeit der Einsamkeit. Der Mann kämpft gegen Menschen und Mächte, vergisst sich in der Arbeit, im schöpferischen Akt oder in der Planung von Einrichtungen, Ideenwelten, Gegenständen. Sein eigenes Bewusstsein mischt sich mit dem der andern. Die Zeit wird Sinn, Zweck, Geschichte, lebendige, bedeutungsvolle Beziehung zu Vergangenheit und Zukunft. Eigentlich wird unsere Individualität, die aus unserer Zeitlichkeit, aus unserer verhängnisvollen Einfügung in eine Zeit resultiert, die wir selbst sind, die uns gleichzeitig ernährt und verzehrt, nicht ausgelöscht, sondern nur verringert und in gewisser Weise "erlöst". Unser persönliches Dasein fügt sich in die Geschichte ein und wird, nach T.S.Eliot, "a pattern of timeless moments". So bildet in fruchtbaren Zeiten der reife Mensch, der von der Qual der Einsamkeit heimgesucht wird, eine Anomalie. Die Häufigkeit, mit der man jetzt diesem Typ des Einsamen begegnet, zeigt, wie schwerwiegend das Übel ist. In einer Epoche kollektiver Arbeit, kollektiven Gesanges und kollektiven Vergnügens ist der Mensch einsamer denn je. Denn der moderne Mensch gibt sich seinem Tun nicht völlig hin. Immer bleibt ein Teil seiner selbst, und zwar der tiefste, unberührt auf der Lauer. Im Jahrhundert der Aktion lauert der Mensch sich selber auf. Die Arbeit, der einzige Gott der Moderne, hört auf, schöpferisch zu sein. In ihrer Ziel - und Endlosigkeit entspricht sie dem ziellosen Leben der modernen Gesellschaft, und die Einsamkeit der Hotels, Büros, Werkstätten und Kinos, ist keine Prüfung, die die Seele läutert, kein notwendiges Fegefeuer, sondern gänzliche Verdammung, Spiegel einer Welt ohne Ausweg.

Die doppelte Bedeutung der Einsamkeit - Bruch mit der Welt und Versuch, eine neue zu schaffen - offenbart sich in unserer Auffassung über Helden, Heilige, Erlöser, Mythos, Biographie, Geschichte, Dichtung schildern Zeiten der Einsamkeit und Zurückgezogenheit, wie sie die frühe Jugend kennt, auf die eine Rückkehr in die Welt menschlichen Tatendrangs folgt. Es sind Jahre der Vorbereitung und des Studiums, vor allem Jahre des Opfers, der Reue, Prüfung, Buße, Läuterung. Die Einsamkeit ist Bruch mit der vergänglichen Welt und Vorbereitung zur Rückkehr und zum Endkampf. Arnold Toynbee illustriert diesen Gedanken mit zahlreichen Beispielen: Platons Höhlengleichnis, Paulus`, Buddhas, Mohammeds, Maciavellis und Dantes Leben. Wir alle haben in den enggesteckten Grenzen unseres Lebens in Einsamkeit und Abgeschiedenheit gelebt, um uns zu läutern und wieder zu den andern zurückzukehren.

Die Dialektik der Einsamkeit - nach Toynbee "the twofold motion of withdrawal - and - return" - zeichnet sich in der Geschichte aller Völker deutlich ab. Vielleicht spiegeln die alten Kulturen, die einfacher als unsere waren, entschiedener diese doppelte Bewegung. Es ist ja nicht schwierig, sich vorzustellen, wie weit die Einsamkeit einen gefährlichen, furchterregenden Zustand für den - mit ebensoviel Eitelkeit wie Ungenauigkeit - sogenannten "primitiven" Menschen darstellt. Das ganze strenge System von Tabus, Geboten und Riten archaischer Kulturen schützt ihn vor der Einsamkeit, denn die Gruppe ist die einzige Quelle des Heils. Der Einsame aber ist krank - ein toter Ast, den man abschneiden und verbrennen muss. Die ganze Gruppe ist in Gefahr, wenn eines ihrer Glieder krank ist. Die andauernde Wiederholung uralter Gewohnheiten und Formeln sichert nicht nur die Fortdauer der Gruppe in der Zeit, sondern auch ihre Einheit und ihren Zusammenhang. Die Riten und die ständige Gegenwart der Geister der Verstorbenen bilden als Mittelpunkt einen Knoten von Beziehungen, welche die individuelle Handlung einschränken, das Individuum vor der Einsamkeit und die Gruppe vor der Auflösung schützen.

Für den "primitiven" Menschen sind Heil und Gesellschaft, wie Auflösung und Tod, gleichwertige Begriffe. Wer seine Heimaterde verlässt, gehört nicht mehr zur Gruppe. Stirbt er, erweist man ihm die üblichen letzten Ehren. So Lucien Lévy-Bruhl. Verbannung auf Lebenszeit kommt jedoch einem Todesurteil gleich. Die Identifikation der Gruppe mit den Geistern der Ahnen und mit denen der Erde kommt in den folgenden afrikanischen Riten zum Ausdruck: "Kehrt ein Eingeborener mit einer Frau aus Kimberley zurück, trägt das Paar eine Handvoll Erde bei sich, von der die Frau täglich essen muss, um sich an die neue Heimat zu gewöhnen. Diese Handvoll Erde soll den Übergang von einem Wohnort zum anderen herstellen." Die gesellschaftliche Solidarität besitzt bei diesen Menschen einen "organischen, lebensbestimmenden Charakter: das Individuum ist buchstäblich ein Glied des Gruppenkörpers". Aus diesem Grunde sind Einzelbekehrungen selten. Denn "niemand kann durch sich selbst gerettet oder verdammt werden". Sein Handeln geht das ganze Kollektiv an.

Trotz all dieser Hindernisse ist die Gruppe vor der Auflösung nicht gefeit; denn vieles vermag diese zu sprengen: Kriege, religiöse Spaltungen, Veränderungen im Wirtschaftssystem, Eroberungen. Ist sie einmal gespalten, steht jedes ihrer Glieder einer neuen Situation gegenüber. Wenn das Zentrum des Heils - die alte geschlossene Gesellschaft - verloren ist, bleibt die Einsamkeit nicht nur eine Drohung, ein Unglück, sondern eine bestimmte Lebensbedingung - und zwar die Ur- Situation, der tiefste Grund des Daseins. Die Schutzlosigkeit und Verlassenheit zeigt sich als Bewusstsein einer Sünde, die nicht aus der Übertretung eines Gebots resultiert, sondern die zum Wesen dieser Menschen gehört. Anders ausgedrückt: sie ist das Wesen dieser Menschen selbst. Einsamkeit und Erbsünde werden eins. Heil und Kommunion erscheinen - wenn auch in einer fernen Vergangenheit - als Synonyme. Sie bedeuten das Goldene Zeitalter, das Reich vor der Geschichte, das vielleicht noch offen steht, wenn es gelingt, die Fessel der Zeit zu sprengen. Aus dem Bewusstsein der Sünde aber erwächst die Notwendigkeit der Erlösung und die eines Erlösers.

Ein neuer Mythos und eine neue Religion entstehen. Zum Unterschied von der alten ist die neue offen, fließend, denn ihre Anhänger sind Verbannte. In einer neuen Gruppe geboren zu werden bedeutet aber noch nicht, ihr anzugehören. Die Mitgliedschaft ist ein Geschenk von oben, die verdient werden muss. Das Gebet verdrängt die magische Formel, und die Initiationsriten verwandeln sich in solche der Reinigung. Mit dem Erlösungsgedanken kommt die religiöse Spekulation, die Askese, Mystik, Theologie auf. Das Opfer und die Kommunion sind nicht mehr reines Totemfest - wenn sie es überhaupt je waren: Sie werden zum Eingangstor in die neue Gesellschaft. Ein Gott, fast immer ein Gottessohn, ein Nachkomme der alten Schöpfergottheiten, stirbt und kehrt in gleichen Abständen wieder. Der Gott der Fruchtbarkeit und des Heils, dessen Opfer in der Gruppe auf Erden schon die vollkommene Gesellschaftsform ahnen lässt, die uns jenseits des Todes erwartet. In der Hoffnung auf dieses Jenseits lebt die Sehnsucht nach jener uralten Gemeinschaft. Der Gedanke der Rückkehr ins Goldene Zeitalter lebt stillschweigend im Heilsversprechen weiter.

Selten kommen alle diese kurz aufgezählten Züge in der Geschichte einer jeden Gesellschaft vor. Einige jedoch gibt es, auf die das obige Schema fast bis in jede Einzelheit passt. Ein Beispiel: die Orphik. Bekanntlich tauchte der Orpheus - Kult, der die allgemeine Anpassung ihrer Völker und Kulturen mit sich brachte, erst nach dem Untergang der achäischen Kultur auf. Die Notwendigkeit, alte profane wie sakrale Bande wieder anzuknüpfen, ließ Geheimkulte aufkommen, deren Mitglieder jene entwurzelten, verpflanzten und künstlich zusammengepferchten Wesen waren, die davon träumten, eine Gemeinschaft zu bilden, von der keine Trennung mehr möglich wäre. Ihre einzige Kollektivbezeichnung war, nach Amable Audin, "die Waisen". Nebenbei gesagt bedeutet "orphanos" nicht nur "waise", sondern auch "leer". Und in der Tat sind Einsamkeit und Waisentum letzten Endes Erfahrungen des Leerseins. Die Orpheus - und Dionysos - Kulte wie später die volkstümlichen Religionen der Spätantike zeigen deutlich den Übergang von einer geschlossenen Gesellschaft in eine offene. Das Bewusstsein der Schuld, der Einsamkeit und der Buße spielen in ihnen die gleiche Doppelrolle wie im persönlichen Leben.

Das Gefühl der Einsamkeit, die Sehnsucht nach dem Leib, dem wir entrissen wurden, ist Sehnsucht nach einem bestimmten Ort. Entsprechend einer uralten Auffassung, die sich bei fast allen Völkern findet, ist es der Mittelpunkt der Welt, der Nabel des Alls. Manchmal setzt man das Paradies mit diesem Ort und beide mit dem mythischen oder wirklichen Ursprungsort der Gruppe gleich. So Mircea Eliade. Bei den Azteken kehrten die Toten nach Mictlán, einem Ort im Norden, zurück, woher ihre Ahnen gekommen waren. Fast alle Gründungsriten von Städten oder Wohnungen spielen auf die Suche nach jenem heiligen Zentrum an, aus dem wir vertrieben wurden. Die großen Heiligtümer - Rom, Jerusalem. Mekka - liegen alle im Zentrum der Welt, weisen darauf hin oder lassen es ahnen. Die Pilgerzüge zu diesen heiligen Stätten sind rituelle Vergegenwärtigungen früherer Wanderungen, die jede Gruppe in mythischer Vergangenheit einmal unternommen hat, bevor sie im Gelobten Land sich niederließ. Die Sitte, erst um ein Haus oder um eine Stadt herumzugehen, bevor man die Schwelle überschreitet, hat wohl denselben Ursprung.

Der Labyrinthmythos gehört in dieselbe Reihe der Glaubensvorstellungen. Verschiedene ähnliche Begriffe haben dazu beigetragen, aus dem Labyrinth eines der fruchtbarsten und bedeutungsreichsten Symbole für die Existenz eines Talismans oder irgendeines Gegenstandes inmitten eines heiligen Bezirks zu machen, der dem Volk Heil und Freiheit zu bringen vermag. In dieses Labyrinth oder Zauberschloss dringt nach Busse- und Reueriten, wie sie eine Periode der Zurückgezogenheit mit sich bringt, ein Held oder Heiliger ein, der nach seiner Rückkehr eine Stadt gründet, rettet, erlöst. Während im Perseus - Mythos vom Heiligen Gral in Verbindung mit der Askese vor: als Sünde, die sich als Unfruchtbarkeit der Erde und der Untertanen des Fischerkönigs kundgibt, als Reinigungsriten, als Gnade - das heißt: Kommunion.

Wir sind nicht nur vom Mittelpunkt der Welt verstoßen worden, sondern auch dazu verdammt, diesen durch Urwälder und Wüsten hindurch, auf steilen Pfaden und in dunklen Gängen des Labyrinths wieder aufzusuchen. Es gab einmal eine "Zeit", die nicht Folge und Fortgang, sondern ständiges Fließen aus einer ewigen Gegenwart war, in der alle Zeiten, Vergangenheit wie Zukunft, enthalten waren. Der Mensch, von der Ewigkeit getrennt, in der - wie gesagt - alle Zeiten eins sind, stürzte in die "messbare Zeit". Seit der Teilung der Zeit in Gestern, Heute und Morgen, in Stunden, Minuten und Sekunden ist der Mensch nicht mehr eins mit ihr und so auch nicht mehr eins mit der Wirklichkeit. Wenn man sagt: "In diesem Augenblick", ist dieser schon vergangen. Die räumliche Zeitmessung trennt den Menschen von der Wirklichkeit, die ewige Gegenwart ist, und macht - nach Bergson - alle Formen der Gegenwart, in denen die Wirklichkeit sich kundgibt, zu lauter Trugbildern. Wenn man über das Wesen dieser beiden gegensätzlichen Ideen nachdenkt, gewahrt man, dass die "messbare Zeit" eine gleichartige Folge ohne jede Besonderheit ist. Immer sich selbst gleich, verachtet sie die Lust wie den Schmerz, vergeht nur. Die "mythische Zeit" dagegen ist keine Folge ewig gleicher Einheiten, sondern von allen Besonderheiten unseres Lebens geprägt. Lange wie die Ewigkeit oder kurz wie ein Atemzug, unheil - oder verheißungsvoll, fruchtbar oder unfruchtbar. Dieser Gedanke legt die Annahme einer Pluralität der Zeit nahe. Zeit und Leben verschmelzen zu einem einzigen Block, zu einer unspaltbaren Einheit.

Für die Azteken war die Zeit mit dem Raum und jeder Tag mit einer Himmelsrichtung identisch. Das mag für jeden religiösen Kalender gelten. So ist auch die Fiesta mehr als ein Datum oder Jahrestag. Sie feiert nicht, sondern vergegenwärtigt ein Ereignis. Sie teilt die "messbare Zeit", damit eine kurze, nicht messbare Spanne lang ewige Gegenwart herrsche. Die Fiesta macht die "Zeit" schöpferisch. "Vergegenwärtigung" wird Empfängnis. Die Frucht der "Zeit" ist die Rückkehr des Goldenen Zeitalters. Hier und jetzt, wenn der Priester die heilige Messe zelebriert, steigt Christus wahrhaftig vom Himmel herab, um für die Menschen dazusein und die Welt zu erlösen. Die wahrhaft Gläubigen sind - wie Kierkegaard sagt - Zeitgenossen Jesu. Aber nicht nur in das religiöse Fest oder in den Mythos bricht eine Gegenwart ein, die die belanglose Folge der Zeiten hemmt. Auch Liebe und Poesie offenbaren uns flüchtig die ursprüngliche Zeit. "Mehr Zeit heisst nicht mehr Ewigkeit", bemerkte Juan Ramón Jimenez, als er sich auf die Ewigkeit des "poetischen Augenblicks" bezog. Zweifellos ist die Auffassung der "Zeit" als feststehende Gegenwart und reines Jetztsein älter als die der "messbaren Zeit", die ja kein augenblickliches Erfassen der verströmenden Wirklichkeit, sondern eher ein verstandesmäßiges Erschließen ihres Vergehens ist.

Diese Zweiteilung kommt im Gegensatz zwischen Geschichte und Mythos wie zwischen Geschichte und Poesie zum Ausdruck. Die Zeit des Mythos, des religiösen Festes oder der Kindergeschichte kennt kein Datum: "Es war einmal..." oder "In der Zeit, als die Tiere noch sprachen..." oder "Am Anfang..." Dieser Anfang, der nicht diesem oder jenem Jahr oder Tag entspricht, enthält alle Anfänge und führt uns in die "lebendige Zeit" ein, wo tatsächlich alles in jedem Augenblick beginnt. Kraft des Ritus, der sich in der mythischen Erzählung, in Poesie und Märchen immer wieder vollzieht, betritt der Mensch eine Welt, in der alle Gegensätze sich auflösen. Nach Van der Leeuw haben alle Rituale die Eigenschaft, jetzt, "in diesem Augenblick", stattzufinden. Jedes Lesen eines Gedichtes ist daher Wiedererschaffung, will sagen, Ritus, Zeremonie, Fiesta.

Theater und Epos sind ebenso Fiesta, Zeremonie. Im Schauspiel wie in der Gedichtrezitation hält die "gewöhnliche Zeit" in ihrem Fluss inne und weicht der "ursprünglichen Zeit". Dank unserer Teilhabe fällt diese mythische, ursprüngliche Zeit - Vater aller Zeiten, die die Wirklichkeit verhüllen - mit unserer inneren, "subjektiven Zeit" zusammen. Der Mensch, Gefangener der Zeitenfolge, bricht aus dem unsichtbaren Gefängnis der Zeit, bricht aus und findet Zugang zur "lebendigen Zeit": die Subjektivität identifiziert sich schließlich mit der "äußeren" Zeit, denn diese ist nun kein Raummaß mehr, sondern Quelle reiner Gegenwart geworden, die unerschöpflich sich selbst ergänzt. Mittels des Mythos und der Fiesta, der weltlichen wie der religiösen, zerbricht der Mensch seine Einsamkeit und wird mit der Schöpfung wieder eins. Und so erscheint der Mythos - verhüllt, verborgen, versteckt - in fast allen Handlungen unseres Lebens und greift entscheidend in unsere Geschichte ein. Er öffnet die Tore der Kommunion.

Der moderne Mensch hat den Mythos verstandesmäßig zergliedert, ohne ihn zerstören zu können. Viele unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie etwa der größte Teil unserer moralischen, politischen und philosophischen Auffassungen, sind nur neue Ausdrücke für Tendenzen, die vorher von mythischen Formen verkörpert wurden. Die rationale Sprache unserer Zeit vermag kaum diese alten Mythen zu verdecken. Die Utopie - und besonders die politische Utopie - bringt, trotz aller rationalen Schemata, die sie maskieren, die Tendenz jeder Gesellschaft zum Ausdruck, vom Goldenen Zeitalter zu träumen, aus dem die Gruppe, einst vertrieben wurde und in welches die Menschen am Ende der Tage zurückkehren wollen. Die modernen Feste - politische Versammlungen, Paraden, Kundgebungen und andere rituelle Handlungen - lassen das Kommen jenes Tages der Erlösung ahnen. Alle hoffen auf die Rückkehr zur Urfreiheit und zur Urreinheit. Die Geschichte wird zu Ende gehen. Die Zeit - der Zweifel, der Zwang, zwischen Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Wirklichkeit und Phantasie zu wählen - wird uns dereinst nicht mehr quälen. Das Reich der ewigen Gegenwart, der ständigen Kommunion wird kommen. Die Wirklichkeit wird ihre Maske ablegen, und wir werden endlich sie selbst und unsere Mitmenschen erkennen.

Jede todkranke oder steril werdende Gesellschaft, die nach Rettung strebt, schafft sich einen Erlösungsmythos, der zugleich Fruchtbarkeits - und Schöpfungsmythos ist. Einsamkeit und Sünde lösen sich in Kommunion und Fruchtbarkeit auf. Auch die Gesellschaft, in der wir heute leben, hat sich einen Mythos geschaffen. Die sterile bürgerliche Welt wird in Selbstmord enden oder an einer neuen Form des Schöpferischen Teilhaben. Dies ist, mit einem Titel Ortega y Gassets ausgedrückt, das "Thema unserer Zeit", die Substanz unserer Träume und der Sinn unserer Handlungen. Der moderne Mensch behauptet, wach zu denken. Doch hat dieses wache Denken uns in das Labyrinth wirren Alpdrucks geführt, wo die Spiegel der Vernunft die Folterkammern vervielfachen. Beim Verlassen entdecken wir, dass wir mit offenen Augen geträumt haben und die Träume des Verstandes schrecklich sind. Vielleicht beginnen wir dann wieder mit geschlossenen Augen zu träumen.

Aus: Octavio Paz: Das Labyrinth der Einsamkeit, Essay; Suhrkamp, 1990, (IX,189-205)...




[Artikel/vielosofis/24.05.2003]





    Artikel/vielosofis


    09.07.2009 Emma Goldman: Minderheiten weisen den Weg

    09.05.2009 Haubentaucher im Mai

    30.04.2009 Paul Scherbart: Die gebratene Ameise. Arbeitsspaß, 1902

    09.04.2009 Haubentaucher im April

    09.03.2009 Haubentaucher im März

    01.02.2009 Haubentaucher im Februar

    15.01.2009 Die Entführung aus dem Serail

    01.01.2009 Haubentaucher im Jänner: Dr. S., Honorar-Anwalt aus Nürnberg

    01.12.2008 Haubentaucher im Dezember: Chris Woodruff

    01.11.2008 Haubentaucher im November: Die Banker

    07.10.2008 Haubentaucher im Oktober: Wladimir Putin, mutterloses Waisenkind.

    07.08.2008 Haubentaucher im September: Wolfgang Egi

    06.08.2008 von instinkten, zombies, schönheit - Thomas Raab und Stefan Schmitzer im Gespräch

    04.08.2008 Haubentaucher im August: Ernst Happel junior.

    10.07.2008 haubentaucher: der inoffizielle Blog zur regionale08

    01.07.2008 Haubentaucher im Juli: Nicolas Sarkozy

    12.06.2008 Österreich als Türöffner für die Mullahs

    07.05.2008 Haubentaucher im Juni: Manfred Deix

    06.05.2008 Haubentaucher im Mai: Yoko Ono

    21.04.2008 Vom Vermögen - Gedanken zur sozialen Grundsicherung

    01.04.2008 Haubentaucher im April: Kein Scherz

    05.03.2008 Haubentaucher im März: Hans Krankl ist einer, Frau Merkel nicht

    01.02.2008 Haubentaucher im Feber: Musik liegt in der Luft

    12.12.2007 Haubentaucher im Dezember: Hier Frau Gorbach!

    31.10.2007 Haubentaucher im November: Auch Descartes hatte Schwächen

    01.10.2007 Haubentaucher im Oktober: William würgt wieder

    11.09.2007 Haubentaucher im September: Hülle und Fülle

    13.08.2007 Haubentaucher im August: Fleisch aus Kärnten

    03.07.2007 Haubentaucher im Juli: Tschau mit au

    04.06.2007 Haubentaucher im Juni: Going international

    06.03.2007 Haubentaucher im März: Harry, alter Stinkstiefel!

    07.02.2007 Haubentaucher im Februar: Wunder werden wahr

    09.01.2007 Haubentaucher im Jänner: Nichts ist älter als die Zeitung von heute

    03.10.2006 Haubentaucher im Oktober

    04.09.2006 Haubentauchers Wiedergeburt

    13.06.2006 Haubentaucher im Juni : Ein Mythos zum Strampeln

    02.04.2006 Haubentaucher im April: macht was er will

    07.03.2006 Haubentaucher im März: Von Montevideo bis Klagenfurt

    09.01.2006 Haubentaucher im Jänner: Fang das Licht, halt es fest!

    15.11.2005 Haubentaucher im November

    29.07.2005 Haubentaucher im August

    31.05.2005 Haubentaucher im Juni: Kreise, Körner, Knie

    02.05.2005 Haubentaucher im Mai: Muttertag, Kapitulation, Spargelsaison

    02.04.2005 haubentaucher im april: das schwein raus lassen

    20.01.2005 Daniel Diemers: Die Zukunft der Arbeit

    03.11.2004 Haubentaucher Exklusiv: Spinnt Graz?

    16.09.2003 Infokörperkult.

    29.06.2003 Disembodied Online

    24.05.2003 Dialektik der Einsamkeit

    30.12.2002 Der Ernst der Arbeit ist vom Spiel gelernt

    30.11.2002 Spürst du dich?

    17.11.2002 the trap door

    25.07.2002 Wie man gedacht wird. Die Dressierbarkeit des Menschen in der Postmoderne

    14.07.2002 Über hergestellte Dummheit und inszenierte Intelligenz

    29.06.2002 Der Mythos "Globalisierung" und der europäische Sozialstaat

    29.05.2002 Politik, Bildung und Sprache

    #modul=kig_rotation##where aktiv=1# #modul=kig_rotation#

    Volltextsuche
    KiG! Mailingliste: @

    CROPfm

    <#no_bild#img src={bild}>{text}
    <#no_bildklein#img src={bildklein}> {headline}





    KiG! lagergasse 98a - A - 8020 graz - fon & fax + 43 - 316 - 720267 KiG! E-Mail.