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Bis an die Grenzen
Es sind tatsächlich Grenzen, über die der Kameruner Autor Fabien Didier Yene schreibt, die Grenzen dessen, was ein Mensch ertragen kann und weit jenseits der Vorstellungsgrenzen all jener liegt, die eine Migration in den vermeintlich goldenen Westen oder Norden nie erlebt haben, weil sie bereits dort geboren sind. Der Autor hingegen hat sie durchgemacht, eine Odyssee auf Leben und Tod, immer im fatalen Spannungsfeld zwischen Hoffen und Verzweifeln. Seine Chronikführt von Kamerun über den Tschad, Nigeria, Niger, Libyen und Algerien bis nach Marokko und endet an den Grenzzäunen von Melilla, gegen die er so oft anrennt und sie zu überwinden versucht. Tausende sind dabei durch die Brutalität der Exekutiven auf beiden Seiten ums Leben gekommen – die EU spricht zynisch von „Migrationsmanagement“. Yene erzählt nicht nur die eigene Geschichte, sondern unzählige weitere, jener Menschen, denen er unterwegs begegnet. Es ist ein Kaleidoskop von Biographien, Ausschnitten, Einblicken die der Autor seinen LeserInnen eröffnet, das die einzelnen Persönlichkeiten aus der Anonymität von Zahlen und Presseberichten holt, aus Statistiken Menschen macht und Klischees, Vorurteilen und Schubladisierungen wie sie in Europa MigrantInnen, vor allem afrikanischen, entgegengebracht werden, durch seine Differenziertheit jeden Boden entzieht. Diese findet sich auch im Sprachrhythmus wieder, der Handlung, Emotion, Faktenzitat, Kommentar und Reflexion miteinander verbindet, wie sie in jedem Menschen in jeder Situation gleichzeitig wirken. Yene klammert auch die zahlreichen Widersprüchlichkeiten, die die Zustände nach sich ziehen, nicht aus. Es ist eben nicht der distanzierte Blick des Außenstehenden, sondern eine intensive Innensicht von jemandem, der gezwungen ist, permanent an und über seine eigenen Grenzen zu gehen, physische wie psychische. Menschenleben zählen nicht, es geht immer nur um eines: Geld. Jeder Schritt kostet, wie und ob man dazu kommt, interessiert keinen. Für Frauen stehen Prostitution und Vergewaltigung auf der Tagesordnung. „Ein Visum für Europa liegt nicht in Greifweite aller Gesellschaftsschichten. Sagt man nicht, Elefant und Elefant gesellt sich gern? Das sind die Spielregeln.“ Und die bestimmen jene, die auch für das gezielte Aufrechterhalten der immensen sozialen Ungleichheiten verantwortlich zeichnen. „Das Leid ist allgegenwärtig, nicht weil man Opfer von Krankheiten oder Epidemien wird, sondern einfach weil man aus einer unbemittelten sozialen Schicht stammt. Das Elend verschlingt uns, und dann kommt der Tod.“ Und weiter: „Betrug ist an der Tagesordnung, es ertrinken viel mehr Menschen, als in den Medien angegeben wird.“ Europa schottet sich ab – mit allen Mitteln. Nicht von ungefähr lautet der Titel des Buches „Bis an die Grenzen“, denn während die eigenen längst überschritten sind, humane sowieso, liegen die eines menschenwürdigen Lebens noch immer jenseits dieser bewaffneten Linien. Yene erzählt von sich in der dritten Person, braucht diese Distanz, um zurückschauen und unvorstellbare Qual in Sprache fassen zu können. „Wie konnte ein Mensch nach dem Ebenbild der Menschen so viel leiden müssen, nur weil er versucht hatte, eine Grenze zu überschreiten?“
Das Misstrauen wird zum ständigen Begleiter, doch Yene macht inmitten all dieser Grausamkeiten auch andere, lebenswichtige Erfahrungen: spontane Hilfe, Solidarität, Freundschaft, Zuwendung.
Ein Buch, das einem die Tränen in die Augen treibt, jene der Trauer, aber vor allem der Wut, und das grenzüberschreibendes und -überschreitendes Potential hat. Ein Buch, das Pflichtlektüre sein müsste, bevor öffentlich wie privat über Migration geurteilt wird.
Evelyn Schalk
Editorial der aktuellen Ausgabe
Fabien Didier Yene: Bis an die Grenzen. Chronik einer Migration. Drava 2011
Das Misstrauen wird zum ständigen Begleiter, doch Yene macht inmitten all dieser Grausamkeiten auch andere, lebenswichtige Erfahrungen: spontane Hilfe, Solidarität, Freundschaft, Zuwendung.
Ein Buch, das einem die Tränen in die Augen treibt, jene der Trauer, aber vor allem der Wut, und das grenzüberschreibendes und -überschreitendes Potential hat. Ein Buch, das Pflichtlektüre sein müsste, bevor öffentlich wie privat über Migration geurteilt wird.
Evelyn Schalk
Editorial der aktuellen Ausgabe
Fabien Didier Yene: Bis an die Grenzen. Chronik einer Migration. Drava 2011
>> Quelle: Medienkooperation mit Ausreißer, Die Grazer Wandzeitung
[Artikel/ausreißer/25.07.2011]
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