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Die kritische Masse
Seit in den frühen 1990er Jahren im sonnigen San Francisco die erste Fahrrad-Demo unter dem Namen „Critical Mass“ veranstaltet wurde, hat sich einiges getan. Zwar hat sich der Ruf nach mehr Raum für Radfahrer_innen im Straßenverkehr seither nicht wie bei einer Kettenreaktion verbreitet. Der sogenannten Spieltheorie folgend, müssen jedoch nur einige Mitglieder einer Gruppe überzeugt sein, um einen Schwellenwert zu erreichen, der zu Veränderungen führt. Wie hoch dieser Schwellenwert in Graz sein müsste und wie nahe man sich diesem schon glaubt, haben wir Aktivist_innen der Grazer „Critical Mass“ gefragt. Laut der offiziellen Homepage „criticalmass.at“, soll die „unreflektierte Dominanz der Autos in der Stadt“ aufgezeigt und durchbrochen werden. Wie sich die Ziele der „Critical-Mass“ speziell in Graz gestalten und wieso man die Masse, die jeden letzten Freitag des Monats durch Graz radelt, außerdem noch als kritisch bezeichnen kann, beantworten David– hauptberuflicher Fahrradbote bei den Pink-Pedals – und Flo* – ein regelmäßiger „Critical-Mass“ Besucher – im ausreißer-Interview.
ausreißer: Worum es bei der „Critical-Mass“ offiziell geht ist bekannt. Was denkt ihr konkret, ist die Motivation, bei der „Critical-Mass“ aktiv mitzumachen? Kurz: Warum setzt man sich einmal im Monat auf ein Rad und macht eine Demo?
David: Es gibt wahrscheinlich verschiedene Beweggründe mitzumachen. Viele Leute sehen die „Critical-Mass“ sicher auch als Treffpunkt, wo man zusammenkommt und Leute trifft. Oft gibt es anschließend auch kleine „Events“. Die soziale Komponente ist nicht unwesentlich. Der harte Kern, der voll hinter der Idee steht, macht um die 10 % aus.
Flo: Viele sehen die „Critical-Mass“ auch als Spaßveranstaltung, wo man mit Musik durch die Stadt fährt. Ich finde, dass beide Seiten vertreten sein sollten.
Und welche Ziele und Beweggründe haben diese 10 %?
Flo: Radfahrer_innen werden im Straßenverkehr nicht so wahrgenommen, wie sie wahrgenommen werden sollten. Sie haben keinen Platz auf der Straße. Fahrradwege sind im Vergleich zu anderen Ländern, wie beispielsweise Holland, wo es richtige große Wege nur für Radfahrer_innen gibt, miserabel ausgebaut. Ich hab kürzlich eine Diplomarbeit (1) über die Radwege in Graz gefunden. Weder werden die Wege direkt geplant, noch so, das man sich gefahrlos und ohne Hindernisse im Verkehr bewegen kann. Im Gegenteil, sie wurden ohne große Überlegungen einfach so „hingeklatscht“.
David: Es geht auch darum, die Politik aufs Radfahren aufmerksam zu machen. Wenn man die Zahlen vergleicht, wieviel in den Radverkehr und wieviel in den Autoverkehr investiert wird, dann liegen die Ausgaben für den Radverkehr wahrscheinlich bei einem Prozent.
Wie könnt ihr euch vorstellen, die Verkehrssituation zu verbessern?
David: Es ist oft ein Problem, vor allem auch in Graz, dass keine Radwege geschaffen, sondern Fußgängerwege geteilt werden. Das ist stadtplanerisch die einfachste Lösung. Es wird dabei nicht wahrgenommen, dass es drei verschiedene Verkehrsteilnehmer_innen gibt.
Flo: Drei gleichwertige Teilnehmer_innen!
David: Genau. Und die brauchen ihre eigenen Spuren. Beispiel Murradweg: Es ist so ein Chaos. Auch Fußgänger_innen und Radfahrer_innen differenzieren sich durch Geschwindigkeit und Achtsamkeit. Ein Fußgänger achtet nicht darauf, dass einer von hinten mit einem 30er dahergebügelt kommt. Und das soll er auch nicht müssen. Es wäre beispielsweise sinnvoll, die Fußwege und Radwege nicht nur optisch, sondern auch baulich zu trennen.
Flo: Allgemein wäre es auch im Sinne der Critical Mass, ein Verständnis von Gleichwertigkeit im Straßenverkehr zu fördern. Dass man Rücksicht aufeinander nimmt. Es gibt ja auch die Shared-Space Projekte, bei denen alle Verkehrsteilnehmer_innen gleichwertig eingestuft sind. Studien zeigen, dass in so geregelten Zonen weniger Unfälle, vor allem weniger schwere Unfälle passieren. Obwohl dabei die Geschwindigkeit besonders für Autofahrer_innen reduziert wird, kann man eine Zeitersparnis im Vergleich zu einer normalen Ampelkreuzung feststellen. Speziell für Graz setzen wir uns auch dafür ein, dass man im Stadtpark Fahrradfahren kann. Es funktioniert ja sowieso.
Von der Fußgänger_innen-Seite möchte ich sagen, dass es mäßig funktioniert. Ich als Fußgängerin würde mich über einen Fahrradweg durch den Stadtpark freuen, weil ich dann nicht immer schreiend zur Seite springen müsste.
Flo: Es gibt natürlich auch unter den Radfahrer_innen Idioten. Aber die gibt’s eben überall. Das Ziel der „Critical-Mass“ ist es auch ein Miteinander zu finden und speziell auf die Anliegen der Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen aufmerksam zu machen.
Gemessen an der doch großen Zahl von Radfahrern und Radfahrerinnen in Graz nehmen verhältnismäßig eher wenig Leute an der „Critical-Mass“ teil. Weshalb, glaubt ihr, ist diese kritische Masse in Graz noch nicht erreicht? Warum gelingt die Mobilisierung der Grazer Radler und Radlerinnen nicht so gut?
David: Ein Grund könnte sein, dass Graz im Vergleich zu Wien doch bessere Fahrradwege hat. Vielleicht ist deswegen nicht soviel Demo-Potential da. Man kommt zurecht, man kommt durch in Graz. Es gibt ja diese Hauptadern durch die Stadt, wie an der Mur oder über die Wickenburggasse und auch die Keplerstraße. Das sind ein paar feine, schön abgetrennte Wege. Das Netz ist nicht superschlecht.
Flo: Warum die „Critical-Mass“ in Graz nicht so groß ist, wie z. B. in Wien, liegt erstens an der Einwohner_innenzahl, andererseits ist in Wien schon eine kritische Menge erreicht, sodass die Demo zu einer festen Institution geworden und damit auch medienwirksam ist. In Graz wurde das noch nicht erreicht.
Glaubt ihr, dass die Botschaft bei den Leuten ankommt? Wenn man nur den Fahrradzug vorbeifahren sieht, weiß man dann, worum es geht?
Flo: Dafür gibt’s Flyer, die während der Fahrt regelmäßig verteilt werden. Was mir in letzter Zeit aufgefallen ist, ist, dass auch von Autofahrer_innenseite vermehrt Zuspruch zur Aktion wahrnehmbar ist. Leute fahren an uns heran und fragen „Was macht ihr da? Was passiert?“ Und wenn wir es ihnen erklären, gibt’s auch mal eine positive Rückmeldung wie „Voll geil, nächstes Mal fahr ich auch mit!“ Natürlich gibt’s aber auch immer wieder Leute, die gar nicht kapieren oder kapieren wollen, worum es uns geht.
Was ist das Kritische an der Masse, abgesehen von einer Einflussnahme auf die Verkehrspolitik?
Flo: Der kritische Anspruch ist, auch gegen bestehende Systeme von Restriktionen in der Öffentlichkeit zu protestieren. Wie das Fahrradverbot im Stadtpark oder Augarten. Da gibt’s ja auch nur ein paar Wege auf denen man fahren darf und bei den anderen wird die Ordnungswache hingesetzt. Das sind restriktive Maßnahmen der Stadt gegen eine wirklich gemeinsame Verkehrsteilnahme zwischen Fußgänger_innen, Autofahrer_innen und Fahrradfahrer_innen. Besser wäre es, wenn es mehrere Shared-Space-Projekte gäbe. In Feldkirchen ist der ganze Hauptplatz ein Shared-Space und es funktioniert super.
Davon gibt es ja einige (wenige) in der Steiermark. Ein bekanntes Beispiel ist der Sonnenfelsplatz in der Nähe der Uni. Wo in Graz könntet ihr euch weitere Sphared-Spaces vorstellen?
Flo: Am Griesplatz wäre sowas angebracht. Beispielsweise die Verbindung Hauptplatz – Griesplatz, über die Mur usw. Oder Ausfallwege, wie von der Uni Richtung Ragnitz. Da fährt man entweder kreuz und quer den Fahrradweg oder auf der total überfüllten Elisabeth- oder Heinrichstraße raus. Stadtplanerisch müsste man da wohl andere Wege gehen. Man könnte auch das „Park and Ride“-Angebot erweitern.
Glaubt ihr, dass das die „Critical-Mass“ in Graz eher als Teil der linken Szene gesehen wird? Auch wenn Ziele vertreten werden, die jedem Radler und jeder Radlerin ein Anliegen sein dürften?
Flo: Ich glaub es wird hauptsächlich als studentisches „Machwerk“ gesehen. Wer hat sonst am Freitagnachmittag Zeit? Ich glaub nicht, dass es explizit der linken Szene zugeschrieben wird, sondern eher den „jungen Leuten“.
David: Es gibt auch von der Argus Steiermark (2) ziemlich viele Leute, die sich einsetzen. Sie machen etwa ein Drittel der „Critical-Mass“-Teilnehmer_innen aus, die regelmäßig kommen. Ich denke aber dennoch, dass die „Critical-Mass“ eher links angehaucht ist. In Graz sind wir aber eine überschaubare Menge, nicht wie in Wien, wo die „Critical-Mass“ nicht nur aus Fahrradfahrer_innen gebildet wird. Dort sind extrem viele unterschiedliche Leute dabei. Die Gruppe in Graz ist einfach nicht kritisch genug.
Kritisch im Sinne der Menge?
David: Ja. Es müssen genug Teilnehmer_innen sein, damit du von den Autofahrer_innen wirklich akzeptiert wirst, damit du am Glacis zum Beispiel zwei Spuren blockieren kannst. Wenn du das mit zehn Leuten machst, dann gibt’s ein Hupkonzert und du wirst bedrängt und Autofahrer_innen werden aggressiv. Wenn du dasselbe aber mit 100 Leuten machst, wirst du akzeptiert. Dann ist die Massekritisch genug, um beachtet zu werden.
Und warum denkt ihr, dass es daran gerade in Graz mangelt?
Flo: Meiner Meinung nach denken die Leute: „Uns geht’s eh noch super. Woanders geht’s viel schlimmer zu.“ Man fängt noch nicht an sich gegen Sachen zu wehren und sich einzusetzen. Graz ist einfach eine sehr gemäßigte Stadt.
Das Interview führten Stefan Ederer & Ulrike Freitag
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Artikel/ausreißer
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