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American Passages


(Ruth Beckermann, AT 2011)
Jahresrückblick, Diagonale 2012

Ruth Beckermann zeigt keine Postkartenansichten der Vereinigten Staaten, soviel ist klar. Warum auch, die Zahl der Facetten, über die es zu berichten lohnt ist so umfassend, dass man auch in zwei Stunden Szenenmontage nur einen winzigen Bruchteil dessen erahnen kann, was hier gleichzeitig passiert, nebeneinander besteht, sich gegenseitig beeinflusst oder ignoriert und auch wieder verschwindet. Beckermann besteht auf ihrer subjektiven Auswahl – wie sie auch in der anschließenden Diskussion betont, ist es ihr Film – und das ist gut so. Klischees deckt sie auf, doch sie lässt keine gelten. Das Wechselspiel zwischen Fassade und Hintergrund, das sich der Europäerin auf ihrer Reise eröffnet, versucht sie keineswegs zu glätten, sondern nimmt dessen Kontroversitäten bewusst in ihr Panoptikum auf.
Die Euphorie über die Wahl Obamas zum Präsidenten stellt im wahrsten Sinn des Wortes die Initialzündung für den Film dar. Immer wieder kommt die Regisseurin auf die Thematik zurück, wenn auch auf anderen Ebenen, indem sie die Rolle beleuchtet, die die Hautfarbe immer noch spielt, die sozialen Konflikte und deren Entwicklungen durch Einzelinterviews vor Augen führt und dabei gekonnt die individuelle mit der politischen Ebene anhand der Aussagekraft der Schilderungen verschränkt.
Etwa, wenn eine Bewohnerin von der Abtrennung der Siedlungen von Wohlfahrtseinrichtungen erzählt – "Sie ziehen Mauern hoch". Beckermann spürt neuen Segregationsverfahren nach oder solchen, die nie aufgehört haben zu bestehen. Ein Taxifahrer, der die Bürgerrechtsbewegung miterlebt hat und noch vom Alltag davor zu berichten weiß, meint: "Die, die Obama gewählt haben, sind jetzt gegen ihn. Sie ertragen es nicht, dass ein Schwarzer so viel Macht hat. Egal was er versucht, es werden ihm Prügel zwischen die Beine geworfen, wie bei der Gesundheitsreform. Was könnte das für ein großartiges Land sein – doch wie viele haben nicht mal eine Krankenversicherung!"
Oder: eine schwarze Richterin und eine Anwältin, die betonen, wie wichtig der gemeinsame Kampf für Gleichstellung nach wie vor ist, gerade für Frauen und keineswegs nur für schwarze. Doch da ist auch das College-Girl im Brautkleid, upper middle class, wie vor allem aus den blasierten Gesprächen der weiblichen Verwandtschaft der älteren Generation zu schließen ist. Deren Inhalte hat sie selbst jedoch wie selbstverständlich übernommen und folgt deren Mustern offenbar unverdrossen. Oder die blonde Vorzeige-Amerikanerin, feuchter Traum aller Tea-Party-Propagandisten, die am Memorial Day vor einem Häufchen Zusehern inbrünstig die Nationalhymne ins Mikro gurgelt, dauerhaft den Tränen nahe ob der eigenen paradepatriotischen Rührungsinszenierung und am liebsten jeden Tag zum Memorial Day erklären würde. Die ganze Inszenierung ist schier grotesk - und das ist wohl die einzige wahre Hoffnung...
Oder der geschichtsverliebte ehemalige Musiklehrer, der mit anderen eine Art lebendes Museum betreibt und Persönlichkeiten aus der Ära der Entstehung der Verfassung in Kostüm und Einrichtung wieder zum Leben erweckt. Doch da ist auch der Hedgefonds-Manager, der seinen Segelflieger wartet und nebenbei erzählt, wie er regelmäßig "15 Millionen im Monat machte". Oder: die ehemalige Prostituierte, die im Gefängnis gerade ein Entzugsprogramm hinter sich hat und nun auf ein neues Leben mit ihren vier Kindern hofft. Da ist das Ehepaar, dessen ganzes Glück seit Jahrzehnten darin besteht, Händchenhaltend bei Walmart einzukaufen, oder die glücklichen schwulen Eltern zweier ebenso glücklicher, durch den Garten turnenden, Kinder, die sich nicht scheuen, davon zu berichten, wie sie auch eigene Einstellungen im Zuge der Adoption zu hinterfragen gelernt haben. Und da ist am Ende der alte Zuhälter in Las Vegas, der sein Leben mit Gambeln und rassistischen Bemerkungen zugebracht hat, dem es nach eigener Aussage an nichts fehlt, der Versorgungseinladungen ausspricht, sich seiner Generosität rühmt und die Regisseurin mit den Worten verabschiedet "Und denk daran, Geld ist nicht alles." Die Springbrunnenfontänen im Rhythmus der Schlussmusikakkorde bilden eine pointierte letzte Einstellung. Die ganze Bandbreite zwischen Hoffnung und Scheitern, die Polarität dessen, was möglich ist, sprichwörtlich unbegrenzt sowie die realen Parameter dieser vermeintlichen oder tatsächlichen Freiheit, werden in dem Road Movie (das eigentlich keines ist) zwischen Ost- und Westküste verwoben.

Bei aller Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit der Entwicklung und dem aktuellen Stand der Verhältnisse ist es jedoch vor allem die Ironie, die den Film von herkömmlichen Dokus unterscheidet und die durch die geschickte Dramaturgie der einzelnen Szenen sowie deren wohl durchdachten Schnitt vermittelt wird. Die ganze Paradoxie von Aussagen oder Zuständen bringt Ruth Beckermann durch die Protagonisten selbst, ihr Verhalten und Sprechen ans Licht, ohne diese jedoch hinter selbiges zu führen. Sensibel, interessiert und als gute Zuhörerin erweist sie sich, die beim anschließenden Schnitt aber auch ihre eigenen Beobachtungen zu transportieren weiß.

    Selbst beim Schreiben verheddere ich mich in all den Polaritäten, ertappe mich dabei, sich allzu leicht anbietenden Erklärungsmustern zu folgen, von oben herab zu (ver)urteilen oder in Schubladen zu pressen, die auch mir von Beginn an eingebläut wurden. Immer wieder setze ich neu an, versuche, dieses Konglomerat von eine anderen Seite her zu fassen, alles unterzubringen, was dabei zählt. Doch vermutlich ist es genau dieser Absolutheitsanspruch, gegen den es aufzubegehren gilt, gegen die Vorurteile, die mit ihm verbunden sind, gegen die Schwarzweiß-Malerei, die uns ein leichtes Urteil in Aussicht stellt und eine genaue Auseinandersetzung zu ersparen verspricht. Das ist das Trügerischste daran und birgt die größten Gefahren. Solche Erklärungen sind immer die falschen, egal ob diesseits oder jenseits des Atlantiks. Denn Schwarz oder Weiß existieren nicht, sondern nur eine unzählige Vielfalt von Zwischentönen – was zählt ist einzig, wie wir mit diesen umgehen.


http://ausreisser.mur.at/online/diagonale-online-special


Evelyn Schalk



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[Kolumne/schalk/24.03.2012]





    Kolumne/schalk


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