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Über Grenzen des radikalen Herzschlags

Mit einem Schlag wird es dunkel. Einer von vielen, die noch folgen und lauter werden. Stakkato und eine Dunkelheit, so dicht und vollkommen, dass keine Bewegung, kein Umriss mehr wahrgenommen werden kann. Was bleibt, ist das Hören, das Lauschen, das zum Tasten, zum Nachspüren wird. Den Bewegungen derer rundum, die aber gleichsam stumm geworden sind in ihrer Orientierungslosigkeit. Was bleibt, ist der Wunsch, die Präsenz eines anderen Menschen wahrzunehmen. Vielleicht vergeblich. Was bleibt, ist die Vibration des eigenen Herzschlags, der aufgenommen, verstärkt, verfremdet, beschleunigt, transformiert wird, wenn das Trommeln einsetzt, anschwillt, lauter wird. Den Reflex unterdrücken, das Schlagen der Stöcke nicht hören zu wollen, fliehen zu müssen vor diesem Rhythmus, der die Fläche, auf der man sich niedergelassen hat in der Erwartung des Sehens, erzittern lässt und mit ihr den eigenen Körper. Vereinnahmung. Herzschläge. Lichtlosigkeit.


M Die Zeit vergeht, und ich hab keine Zeit.


Ernst Marianne Binder inszeniert für dramagraz Sarah Kanes „GIER“ und es ist alles andere als Sommertheater, was da im heißen, stickigen Dramenraum geboten wird. Stattdessen hat sich das frühzeitige Absinken der Außentemperaturen auf der Bühne festgefroren. Da ist einerseits Kanes Textgewitter, in dem die britische Dramatikerin die Verzweiflung und Sehnsucht ganzer Generationen in aller Radikalität niedergehen lässt. Und da sind andererseits die vier SchauspielerInnen (Lucia Neuhold, Mona Kospach, Lukas Walcher, Ninja Reichert), die mal tapfer, mal naiv an diesem unentrinnbaren Rhythmus scheitern, weil er nie der ihre wird, in ihrer bornierten Unschuldigkeit.

M Ich will nicht alleine sterben und erst gefunden werden, wenn meine Knochen blank

sind und die Miete überfällig.



Denn Kane geht an die Grenzen, und weit darüber. Sie schreckt vor der Finsternis nicht zurück, im Gegenteil. Die Einsamkeit des Ichs ist eine absolute, genauso wie die unablässigen Versuche der ProtagonistInnen, deren auch nur momenthafte Aufhebung zu erfahren. Die Überlebensnotwendigkeit der vollkommener Verbindlichkeit von Mensch zu Mensch. Das vorprogrammierte Scheitern und doch einen Schritt nach dem anderen setzen im Wissen um das Ende dieses Wegs. Immer wieder. Immer weiter. Unaufhörlich. Das Flehen nach dem anderen. Und dessen permanenter Verlust.

A Die Frage ist, Wo lebst du und wo willst du leben?

M Abwesenheit schläft zwischen den Gebäuden bei Nacht.

C Stirb nicht.


Ums Leben schreiben. Text Existenz. Wort Sein.

Das Überleben, den Kompromiss, hat Sarah Kane nicht ertragen; die Autorin nahm sich 1999 im Alter von 28 Jahren eben jenes Leben. Doch nicht ihre Biographie, sondern ihre Texte wollte sie im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, der Aufmerksamkeit, der Gedanken wissen.


Und so ist – und bleibt – einzig der Text, der zählt. „GIER“ ist keiner, der zu spielen ist, sondern zu sprechen. Das hielt die Autorin auch selbst anlässlich der Uraufführung 1998 fest: "I think of it more as text for performance than as a play", und verwies gleichzeitig auf die Gratwanderung zwischen literarischem Ich und dramatischer Schreibe: "I wanted to find out how good a poet I could be while still writing something dramatic". Der Spagat zwischen Monolog und Dialog, zwischen Kreisen um sich selbst oder umeinander...

M Ich bin nicht imstande, dich zu kennen.

C Keine Lust, mich zu kennen.

M Absolut unkennbar.


GIER“ lautet die deutsche Version, im Original heißt das Stück „CRAVE“, was einen im Wortsinn gewaltigen Unterschied macht. Denn während „GIER“ jenes neoliberale, ausschließlich egomanische Beanspruchen, das auch Elfriede Jelinek ihrem gleichnamigen Stück zugrunde legt, bezeichnet, steht „CRAVE“ für ein (Er)Sehnen, Erflehen, ein bis zur Besinnungslosigkeit verzweifeltes Wollen, ohne Innehalten, ohne Besinnen, ohne Sinn vielleicht, aber trotzdem oder gerade deshalb.

Das Leben, die Liebe, das Sein – in ihrer totalen Absolutheit und deshalb uneinlösbar. Vielleicht ist es diese Absolutheit, für die die deutsche Sprache kein Äquivalent zur Verfügung hat. Die auf Deutsch undenkbar, also auch unsagbar ist. Beziehungsweise (sic!) umgekehrt.

C Du hast dich in jemanden verliebt, der nicht existiert.


Diese Diskrepanz spürt auch Regisseur Ernst M. Binder und lässt in einer der stärksten Passagen der Inszenierung die englische Originalversion und die hakende deutsche Übersetzung ineinander fließen, um dann seufzend wieder zu letzterer überzugehen. Doch nicht nur die Überlagerung der Sprachen macht diesen Part zum intensivsten des Abends, sondern auch Ninja Reichert, die ihren Monolog so präzise wie leidenschaftlich gibt. Ein Monolog an die Liebe, ohne Punkt und Komma, ohne Innehalten, ohne Zögern. Besinnungslos – und bedingungslos.


An so manchen Stellen im Stück, das keines ist, im Skript, das sich dem Theater verwehrt, im Text, der auf sich selbst beharrt, werden die unverkennbar Beckett'schen Spuren in Kanes Werk deutlich, überdeutlich. Die Figurennamen im Skript reduziert auf die Anfangsbuchstaben ihrer eventuellen Funktion – A, B, C und M – "Author", "Brother", "Child" und "Mother". Ein Quadrat aus dem Lot. Doch während es bei Samuel Beckett immer wieder die totale Erfahrung ist, die im Zentrum steht (und formal in der Bewegung oder Erstarrung Ausdruck findet), scheinen Kanes Figuren bereits so desillusioniert, dass sie diese nur noch als zitierte Referenz imaginieren, im Bewusstsein ihrer Unerreichbarkeit – und daraus die letzte Konsequenz ziehen. Beharrlich. Denn so ausschließlich ichbezogen sie das ganze Stück hindurch auch agieren, geschult an den Verhältnissen, denen sie nicht ent- sondern eingewachsen sind, so bleibt diese Konsequenz die einzig kollektivistische Übereinkunft.

A Du bist nie so mächtig, wie wenn du weißt, dass du machtlos bist.


Dermaßen radikale Negation emotionaler Kompromisse ist selten (geworden). Keine Showeffekte, keine radschlagenden Bühnenturbulenzen. Reduktion auf Absprung. Der Saal war voll besetzt. Der Raum bleibt leer. Es ist an allen – und jedem, ihn zu füllen.


A ...und dich im Bett festhalten wenn du los musst und heulen wie ein Kleinkind wenn du zuletzt wirklich gehst und die Kakerlaken loswerden und dir Geschenke kaufen die du nicht willst und sie wieder wegbringen und dich bitten mich zu heiraten und du sagst wieder nein und nicht aufhören zu bitten denn obwohl du denkst ich mein es nicht ernst mein ich es ernst hab es immer ernst gemeint vom ersten Mal an wo ich dich gebeten habe und in der Stadt herumirren und denken sie ist leer ohne dich und wollen was du willst und denken ich verliere mich selbst aber wissen dass ich in Sicherheit bin bei dir und dir das Schlimmste von mir erzählen und versuchen dir mein Bestes zu geben weil du kein bisschen weniger verdienst und deine Fragen beantworten wenn ich es lieber nicht täte und dir die Wahrheit sagen wenn ich es wirklich nicht will und versuchen ehrlich zu sein weil ich weiß das ist dir lieber und denken es ist alles vorbei aber noch wenigstens zehn Minuten ausharren bevor du mich rausschmeißen wirst aus deinem Leben und vergessen wer ich bin und versuchen dir näher zu kommen weil es schön ist dich kennen zu lernen und die Mühe sehr wert und in schlechtem Deutsch auf dich einreden und hebräisch noch schlechter und mit dir schlafen um drei Uhr morgens und irgendwie irgendwie irgendwie etwas mitteilen von der / überwältigenden unsterblichen übermächtigen bedingungslosen allesumfassenden herzbereichernden verstanderweiternden anhaltenden niemals endenden Liebe die ich für dich empfinde.


http://dramagraz.mur.at/dramagraz/index.php?menue=start  ...




[Artikel/schalk/03.09.2015]





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