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Messer
"Körperwelten", eine Ausstellung geistert durch das Land, die präparierte Menschenkörperteile zeigt, so artifiziell, so geformt und gespalten, dass kaum jemand riecht, dass er seine Freizeitleere mit
der Betrachtung von Menschenleichen füllt. Es muss möglich sein, beteuern die Journalisten sich und ihren
Lesern über den eigenen Brechreiz hinweg, es muss gezeigt werden, alles muss gezeigt und möglich sein.
Und das ist es dann: Die Hüllen fallen lassen, die Haut fallen lassen, die geächteten Hemmungen wie Bahnschranken
hochziehen, da fährt der Zug drüber. Wer schweigen, wer angezogen und ungeöffnet bleiben will, bleibt eben zurück.
Da hätten wir einmal den Drang oder Zwang zum Bekenntnis, dem kathartische Wirkung zugeschrieben wird. Es begann vor
langer Zeit mit der Beichte beim Priester, nur für zwei Ohren, vorhanggeschützt, intim gehalten von Schweigeverpflichtung und Beichtstuhl.
Anfang dieses Jahrhunderts wurde der Vorgang säkularisiert, der Psychoanalytiker übernahm die Anhörung, erzählte
das geheim Gehörte aber schon weiter: als Fallstudie mit mehr oder weniger blicksicherem Pseudonym. Die
Seele, das Unbewusste, die Lebensgeschichte wurden entdeckt für Forschungsreisen und -berichte.
Und keine Frage, das Aussprechen hat seither so manche Blätter gewendet und ihre vertuschten Rückseiten
gezeigt. Wir wissen, dass Krieg nicht einfach vorübergeht, dass Vergewaltigung in ein Menschenleben eingeschrieben bleibt.
Und keine Frage, das Kommunalisieren der eigenen Erfahrung kann heilsam sein, Solidarität schaffen, die Erinnerungsfragmente für
Innen und Außen zur Narratio kitten. Aber Innen und Außen sind im Massenjargon von Populärpsychologie und K
onstruktivismus schon längst nicht mehr zu unterscheiden: Der andere ist ein Spiegel, der mir eigene "Schatten"
oder "Anteile" zeigt, die Welt ist das, wofür ich sie halte - was mich über meine Machtlosigkeit, sie
zu ändern, hinweg täuschen soll. Ich bräuchte sie ja nur anders zu sehen oder: Das ei
nzige, was ich ändern kann, bin ich selbst. Und bald haben es alle gelernt: Das
Hosen-runterlassen, das Sich-überall-angreifen-lassen, das Gefühle-rauslassen, das Ausbreiten
des selbstzerfleischten Fleisches zur öffentlichen Beschau.
In der Talk-Show gipfelt die Reichweite der unüberhörbaren Beichte. Wo vor nicht allzu langer
Zeit vereinzelte "Stars" kleine Privatheiten geoutet haben, tut es nun jeder, der eine Chance bekommt -
mag sein, in der Hoffnung auf Stärkezuwachs durch die Sehergemeinschaft, oder auf eigene Starbedeutsamkeit. Die
Interviewerinnen, meist ganz, ganz ungezwungene junge Frauen (da diese den Gästen offenbar leichter peinliche
Geständnisse entlocken), nehmen sich kein Blatt vor den Mund oder sonstige Körperteile und schießen,
ganz kichernde Kindlichkeit, direkt zwischen die Beine: "Hast du schon einmal ganz spontan ganz, ganz wilden Sex gemacht?"
Kaum einer der solchermaßen Befragten wagt es, die öffentliche Berührung zu verweigern, ja nicht einmal
ihr auszuweichen, so groß ist die Angst, als prüde/ verklemmt/ unaufgeschlossen
zu gelten, und insbesondere Männer legen oft noch tapfer eines drauf und werfen das als besonders
antibürgerlich geltende Fut-Möse-Votze-Vokabular ins Gefecht.
Doch es ist gar nicht so sehr die Verfügbarkeit und Verformung der Seelen, die das ausgehende 20. Jahrhundert kennzeichnet: Es
ist die Verfügbarkeit und Verformung der Körper. Da gibt es Dinge, über die endlich, sagen wir,
gesprochen werden darf. Weibliche Genitalverstümmelung etwa ist kein dunkles afrikanisches
Geheimnis mehr, sondern wird im internationalen Licht angeprangert und beleuchtet. Doch während wir - zu
Recht - solche Praktiken als barbarisch bezeichnen und abzuschaffen hoffen, überschmunzeln
wir gleichzeitig das Ausmaß, indem bei uns Messer die weiblichen Körper zerschneiden.
Werden bei uns nicht Millionen von Brüsten aufgeschnitten und mit Säcken voll toxischer
Chemikalien gefüllt? Und während wir uns - zu Recht - um den Verlust erotischer
Empfindsamkeit beschnittener afrikanischer Frauen sorgen, gilt der Gefühlsverlust in den Brustwarzen, der infolge
einer Brustoperation auftreten kann, als der der Optik zu opfernde Preis.
Die Argumente gleichen sich: Sowohl der "beschnittene" als auch der "schönheitsoperierte" weibliche Körper
sieht, wird behauptet, "schöner" und "weiblicher" aus, wird daher von Männern vorgezogen. Auch
die "Freiwilligkeit" ist die gleiche, überall verlangen Mädchen und Frauen gleichermaßen
nach dem Messer, das sie so macht, wie die Gesellschaft sie wünscht. Und auch bei uns wird so
mancher Eingriff schon von den Müttern initiiert, die ihren Töchtern wohlmeinend die
Nasen abschneiden lassen, in der Annahme, dadurch hätten sie bessere Chancen auf einen Mann.
Waris Dirie, deren Buch "Wüstenblume" einer der Bestseller des Jahres 1999 wurde, beschreibt
die Körpergewalt beider Welten: Als kleines Mädchen in der somalischen Wüste bat
sie um ihre Beschneidung, nachdem sie immer wieder als "unrein" beschimpft worden war. Jahre später macht
sie in den Modemetropolen des Westens als Model Karriere - und es geschieht etwas sehr Ähnliches.
Diesmal wird sie von Fotografen und Modeschöpfern wegen ihrer "krummen Beine" beleidigt, bis sie
sich schließlich an einen Schönheitschirurgen wendet. Er möge ihr doch, bittet sie
ihn, diese ungestalten Beine brechen, damit sie sich ihrer nie wieder zu schämen braucht.
Und da sind sie auch schon, überall, diese Körper, in Schwerstarbeit zurecht gestrafft, trainiert,
enthaart, fettabgesaugt, collagenimplantiert, massiert, gebürstet, gepeelt, laserbehandelt, heruntergehungert
und voller Angst, in nur einem Zentimeter einen Aus- oder Einwuchs zu bekommen, der alles, das Außen- und
Innenbild, den Begehrenswert, die Karriere ruiniert.
Naomi Campbell isst Wattebäusche zum Frühstück. Gwyneth Paltrow hat nach ihrer
Oscar-Verleihung nur noch eine Sehnsucht: sich einen Busen anzuoperieren, der vor den
Wonderbra-gierigen Presseaugen besteht. Und keine kommt davon, und gerade den Schönsten der Allerschönsten ist das Messer ein alltäglicher
Körperkontakt.
Und überall diese Bilder, zwanzig-, siebzehn-, fünfzehnjährige Körper,
inflationär und aufgeblasen im gesamten öffentlichen Raum, in der immer ewig
gleichen penetranten Sinnlichkeit, die die Lippen aufschmollt, die rasierten Innenschenkel
spreizt. Und jede Frau rennt mit und zieht sich das Gleiche an und aus, und stellt alles dar
und liegt unter jedem Blick genauso hingeräkelt, wie es auf kirchengroßen Billboards
vorgebildet ist. Das alles wird uns verkauft, und als sexuelle Freiheit verkauft, und die
Freiheit besteht darin, genauso zu sein, wie man sein soll, wie alle sein sollen und sein
wollen sollen, und die neueste Zellulite-Behandlung zu kaufen.
Der unretouchierte menschliche Körper kommt in der Öffentlichkeit nicht vor, denn seine Darstellung
gilt als obszön. Sexuelle Freiheit nur in der Pose, Verkrampfung, dem perfekten Make-up,
nur für die Faltenfreien mit weniger als 6% Körperfettanteil? Und auch die wachen
morgens ungeschminkt auf und müssen ihren Körper verstecken. Und gerade die
Schönsten der Allerschönsten, die Sex-Idole, die Schwärme, dürfen sich
Abweichungen vom eigenen Idealbild nicht leisten. Sollten ihre Körper einmal in die
Unvollkommenheit gequollen sein, müssen sie sie sofort aus der Öffentlichkeit
zurückziehen und an geheimen Orten unter der Aufsicht von Trainern, Diätspezialisten
und Chirurgen in die fotogene Form zurückkorrigieren.
Das ist aber auch alles nichts
Neues, denn die Idee vom perfekten Menschen war in diesem Jahrhundert schon einmal ganz
kirchengroß da. Leni Riefenstahl hatte die Kamera in der Hand, und es gelang ihr,
die Menschen wie Götter abzulichten. Wirklich gut, sagt sie, zu fotografieren sind
nur Babys, denn die sind faltenlos. Durch Licht, sagt sie, kann man eine Frau zwanzig
Jahre jünger oder älter machen. Frauen, sagt sie, bekommen ein weiches Licht
von vorne, das lässt sie verschwimmen, und Männer ein scharfes Licht von der
Seite, damit sie deutlicher sind. Und noch göttlicher wirken die jungen, gesunden
Menschen gegen einen strahlenden Himmel, von unten fotografiert, damit man zu ihnen
aufblicken kann.
Und auch bei den Nuba, sagt sie, hat sie die Alten, Kranken
nicht gesehen, die waren nicht da, die saßen doch in den dunklen Hütten.
Und die Nuba wollten gar nicht fotografiert werden, aber sie waren so schön und
wie man sich Afrika vorstellen mag, und sie waren nur Körper und ohne Persönlichkeit
und Geschichte und Mitspracherecht. Und Leni Riefenstahl sagt, die Fotografie zeigt doch nur
das, was wirklich und da ist, und dann erzählt sie weiter von ihren Ideen und Tricks.
"Nackte Wilde" aber waren schon immer bevorzugte Träger der alles sexualisierenden
europäischen Projektionen, denn diese seien ja Kindmenschen, noch natürlich und
ohne zivilisatorisches Schamgefühl, und so halten sie schon seit Beginn der Ethnofotografie
als Fleischvorlagen her.
Diese Funktionalisierung der Nacktgewünschten ferner
Länder ist heute so weit gediehen, dass kein Reisebüroprospekt, keine Fotoreportage
und selbst der seriöseste Reiseführer nicht auf die Abbildung barbusiger einheimischer
Mädchen verzichtet - auch wenn diese, was aber keinen kümmert, keineswegs aus
Natürlichkeit nackt sind, sondern, wie anderswo auch, weil man ihnen Geld dafür gibt.
Und so reisen die solchermaßen angelockten Männer aus dem Norden in die
solchermaßen beworbenen Länder, das globale Puff, verwandeln mit dem Zauberstab
des Geldes Frauen und Kinder zu Kauffleisch, Reich fickt Arm, und an allen "sexuell
aufgeschlossenen" Wohnzimmertischen wird tolerant und herzlich gelacht.
Dass alles, was
man kaufen kann, mit Sex zu tun hat, und alles, was mit Sex zu tun hat, käuflich ist, ist
zum alles umwölkenden Paradigma gereift.
Werbung: Ein Mann blickt in ein
Kästchen, das man sofort mit einer Peepshow assoziiert. Am Höhepunkt seiner
Ekstase öffnet er das Bratrohr und zieht einen Rinderbraten heraus. Text: "Was wäre
ein Leben ohne Fleisch." Frau ist natürlich Fleisch und Sex ist ein Münzwert und alles
das Gleiche. Offenbar zum Trost für die Zuseherinnen beginnt der reichlich beleibte Herr
am Werbespotende vor seinen Fleischtafelgästen zu strippen.
Den Künstlern ist
Sexualität und Nacktheit als Mittel der Provokation abhanden gekommen. Als Isadora Duncan
1922 öffentlich ihre Brust entblößte, betrachtete sie selbst dies noch als
politischen, aufklärerischen Akt. Mittlerweile kann es sich kaum eine Frau im
Showgeschäft mehr leisten, ihre Kleider anzubehalten. Der Tabubruch ist totgebrochen, das
ausgeleuchtete Geschlechtsteil so bieder, spießig und konventionell wie die
Möbel-Leiner-Regalwand. Jeder hat seine intimsten Geheimnisse vor der Weltöffentlichkeit
austrocknen lassen. Niemand können Schwanz und Möse in Schrift und Bild noch schockieren.
Die kleinsten Kinder haben im Einkaufszentrum schon alles gesehen. Die Künstler können nur
hinterher keuchen, brav noch ein paar Fick-Stücke schreiben, noch ein paar Vaginalansichten
malen. Unversehens sind sie freie Mitarbeiter der Sexindustrie geworden. Denn die Anpassung funktioniert
nun in die andere Richtung: Wer nicht alles zeigt und alles sehen will, alles sagt und alles
hören will, riskiert sein Ansehen und manchmal sogar seinen Job.
Was aber ist nun
geworden aus dem Sex, der uns alle immer so interessiert hat? Gebannt warten wir auf die
völlige Übersättigung. Gelegentlich wird schon die "neue Schamhaftigkeit",
der "Trend zum Naturbusen" prophezeit. Psychologen ergründen und begründen, die
wachsende Beziehungsangst habe den Sexualtrieb auf den Schautrieb reduziert. Und wie
Günther Nenning es einmal formulierte: So wenig gepudert wie heute wurde in unserer
Gesellschaft noch nie. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der Sex als Macht und Fähigkeit
des Individuums sich zuallererst im Kopf regt. Die Köpfe aber sind im wahrsten Wortsinn
voll gerammelt. Jede Fantasie wird uns vorfantasiert, die selbstgedachten Bilder werden von
den vorgemachten zugepickt. Martin Humer hat aufgegeben. Und Glück und Wellness und Sex
gesellen sich zu Einkommen und Karriere als Aspekte gelungener Leistung.
Da gibt es die
Theorie, das alles hätte mit Religion zu tun. Die Ekstase, die Erleuchtung, die
Verbundenheit mit der Schöpfung und der Sinn, vor allem der tiefere, sollen den Menschen
am Ende der Erregungswallfahrt zu guter letzt belohnen. Leder, Latex, Dildos und Dessous werden
wie Votivgaben gekauft und geopfert. Wo früher Kreuze und Heiligenbilder an den eigenen
vier Wänden hingen, sind es nun Hochglanzfotos von Ärschen und Titten, bzw. im
kunstinteressierten Haushalt die ewigen schieleartig hingekritzelten Mösen. Denn die
Wiederholung ist der erste Schritt in die Ewigkeit: Die Madonna mit dem Kinde hunderttausendmal,
der auf der Lotosblume sitzende Buddha hunderttausendmal, das Silikontitten-Pin-up
hunderttausendmal.
Ablässe werden nicht mehr an die große Kirchenorganisation,
sondern an die große Sexindustrie bezahlt: Geld gegen Erlösung, Fernsehgebühr
statt Kirchenbeitrag. Und das Denken und Empfinden, das Glauben und Sehen wird wieder von den
öffentlichen Plätzen bis in die Intimität der Schlafzimmer gesteuert,
kontrolliert und beherrscht.
Das aber, könnte man sagen, hängt auch mit dem
Esoterik-Gewucher zusammen, ja, Esoterik und Erotik ergeben doch die allerbestbesuchten Messen,
und in wie vielen harmlosen Haushalten findet man bereits Personen, die mittels teurer
Apparate "schwingendes" Wasser produzieren. Die realen Beziehungskrisen werden durch den
Kauf von Naturgeräusche-CDs, Amethystdrusen oder in schnödem Branntwein eingefangenen
Kräutergeistern geheilt, und den heiligen erhofften Sex erwirbt man in Gestalt eines
Tantra-Leitfadens. Der tiefe Sinn, dem man im Yoga-Kurs oder Finde-dich-selbst-
Wochendendseminar nachzubohren versucht, wird immer unschärfer zwischen den Geldscheinen,
den Platten der Einbauküche, den Feng Shui-verschobenen Räumen.
Und weil alles
so schnell vorbei und so schnell gelebt und so schnell abgelöst ist, und die große
Liebe von heute das große Nichts von morgen, und die große Glückshoffnung von
jetzt der unerklärliche Irrweg von später, und weil es in der Werbung und in den
Spielfilmen allen anderen immer so viel besser geht, und weil alle ständig ihr Leben
selbst in die Hand nehmen müssen und dabei ständig feststellen, dass das
aufgerufene Göttliche in ihnen bei der Beherrschung der Lebensumstände versagt, wird
der einzelne Kleinmensch immer noch kleiner und verspürt immer stärker den Drang zu
einem Leben als Star. Denn die Stars, die Ikonen, die Celebrities und Legenden haben ihren
Abdruck in die Ewigkeit eingeprägt, aber im Gegensatz zu den früheren Heiligen leben
sie nicht nur ewig, sondern auch jetzt.
Und so konkurriert man nun nicht mehr allein mit
der Arbeitskollegin oder dem Schulfreund, sondern zusätzlich mit Cindy Crawford und Brad
Pitt. Auch das eigene Bild soll in der nach kollektiver Einschätzung begehrenswertesten
Form konserviert werden, und so mancher Fotograf hat sich bereits auf das Herstellen von
"Starfotos" spezialisiert. Zielpublikum ist die körpergestresste Frau, die endlich einmal
zeigen will, wo in ihr die Sexgöttin steckt, indem sie sich im allüberalles
beherrschenden Playboy-Stil darstellt. Und es funktioniert: Studio-Make-up und Retouche
glätten jede Frau zur gleichen Art Fleisch.
Und so ist die Über-Ikone des
ausgehenden 20. Jahrhunderts Pamela Lee Anderson, "Männerschwarm" mit operativ
durchgestyltem Körper, die perfekte leibhaftig gewordene Plastikpornopuppe, deren
restlos zerstörte Brüste, oder genauer gesagt: die sich in den Hautlappen befindlichen
Prothesen, vom Vorstandsbüro bis zur letzten Bohrinsel das zentrale Gesprächsthema
sind. Und niemand kann oder will es sich dazudenken, das Bild hinter den Bildern, auf dem die
Frau aufgeschnitten und blutig am Chirurgentisch liegt.
Dass sie mit 12 Jahren vergewaltigt wurde, dass ihr Freund sie misshandelt, ist hingegen der Zucker auf der
öffentlichen Begeilung, das lässt sich durchaus lustvoll imaginieren. Und schon ist
die Friseuse aus Vorarlberg, die sich genauso hinoperieren hat lassen wie sich Pamela
hinoperieren hat lassen, der nächste Fernsehstar. Der Moderator lächelt wohlwollend,
die Männer im Publikum grölen wohlwollend, eine achtmal durchgeschnittene junge Frau
erntet höchste Anerkennung dafür, dass sie freiwillig ihren Körper und ihre
Individualität aufgibt.
Und so werden die Gesichter begradigt und geglättet bis zur Gesichtslosigkeit, Cher gibt
ihren Körper, wie sie sagt, einmal im Jahr zur Reparatur wie ihr Auto in die Werkstatt, die
Frauen verdinglichen also, wie man hört, sich selbst, und man versteht das ja auch, das
Selbst als Ware, die Berufsschönen leben ja schließlich davon, während die
anderen ihr Geld dafür ausgeben, ihnen immer ähnlicher und sich selbst immer
unähnlicher zu werden, so wie die Medienbildermenschen sich selbst unähnlich
geworden sind, man vergleiche nur Fotos aus prä- und post-operativer Zeit.
Die Welt bevölkert sich mit Plastikpuppenmenschen, die Angst vor ihrem eigenen Gesicht
und ihrem eigenen Körper haben, der sie ständig verrät, da die Perfektion des
eigenen inneren Fotos, auf dem man zwanzigjährig, durchtrainiert, abgehungert, perfekt
gestylt und beleuchtet erscheint, niemals festzuhalten ist und sich aus der gefrorenen Pose
stets in andere Formen verwandelt.
Das Zeitalter wurde als eines des Individualismus angekündigt, doch mehr denn je heißt Identität heute Identischsein. Der
Massenindividualismus wurde zur Massengleichartigkeit. Alle verzweifelten Versuche, dem
eigenen Leben noch eine Wendung ins Einzigartige zu geben, enden wieder in einem Canyon, in dem
Tausende anderer Individualisten sich im Akkord der organisierten Stromschnellengefahr
unterziehen.
Jede Lebensdehnung des einzelnen wird zum Generalrezept, jede kleine
Freude zum großen Geschäft. Der gesamte Planet ist erschlossen, bewirtschaftet, in
große Abenteuer und einzigartige Fotomotive parzelliert, die von Millionen Touristen immer
und immer wieder beschrieben, gefilmt, abfotografiert werden. Die "Einheimischen" sind dabei
nichts als ein weiteres malerisches Aufnahmeobjekt. Das individuelle Urlaubsfoto wird
hunderttausendfach reproduziert: "ich mit Eiffelturm", "ich mit Massai-Krieger". Wer aber "ich"
ist, ist letztlich genauso egal, wie wer der "Massai-Krieger" ist.
Das Exotische wird zum Alltag, das Besondere zur Norm, bald ist alles ausgereizt, bald hat
jeder den viel betrampelten Himalaja bestiegen. Been there, done that, seufzen die Lebenskenner
gelangweilt. Schönheit? Ausbildung? Eine Frage des Geldes. Geld? Eine Frage von
Schönheit und Ausbildung. Jeder will alles haben, jeder will überall gewesen sein. Die
Bewohner der Malediven werden abgesiedelt, damit man dort Hotelkomplexe errichten kann.
Wo die fremde Welt deportiert wurde, muss man abtauchen: Unter Wasser ist es noch ganz anders
als gewohnt. Und wieder Fotos, das Unbekannte beleuchten und fangen. Und schon hat es jeder
getan, und schon ruft das Foto vom Rotfeuerfisch nur mehr Gähnen hervor. Jede
Aktivität wird zur Massenaktivität, zum industrialisierten Prozess, zum Exzess.
Die Reizschwellen steigen ins Unermessliche an. Was ist noch wirklich erotisch? Die
hunderteintausendste Stripperin den hunderteintausendsten Strip abspulen zu sehen? Was ist noch
wirklich grauslich? Den hunderteintausendsten Massenmörder die hunderteintausendsten
Opfereingeweide herausschnetzeln zu sehen? Was ist noch wirklich ein individueller Eintrag
in die eigene Lebensgeschichte? Die Bali-Rundreise? Das Paragliding-Erlebnis? Immer mehr
Geschmacksverstärker sind nötig, immer mehr Kicks. Die hunderteintausendmal
getretenen Eseln spüren nichts mehr. Das Leben wird zur enttäuschenden Suche
nach der großen Emotion, von der man trotzig hofft, dass sie irgendwo käuflich
erworben werden kann. Und der kleine Kaufkick muss immer wiederholt werden, in immer
kürzeren Abständen, mit immer höheren Beträgen.
Die Frauen, die weißen Flecken, die dunklen Kontinente sind kartografiert und erforscht. Die Kolonialisierung des Planeten und des weiblichen Körpers sind abgeschlossen. Das Unangetastete gibt es nicht mehr. In jeden Keimwinkel hat die Forscherzunge geleckt. In die tiefsten, verborgensten Kammern haben die Forscherperiskopaugen geblickt. Alles ist ans Licht gezerrt, gezähmt und gefangen, wird dort konserviert und verdenkmalt, damit es nicht an der Sonne zerfällt. Durch die aufgestoßenen Türen fegt Zugluft. Die Geheimnisse sind alle gelüftet, die Erde wird vom Wind abgetragen, die Dickichte sind abgerissen, die Gesteine, die Wüsten liegen bloß....
Artikel/realis
13.07.2015 Margarethe Makovec tritt aus Kulturkuratorium aus - Offener Brief
09.07.2015 Unargumentierte Kürzungen: Kulturförderverträge unter Beschuss
20.11.2014 petition: gemeinschaftsgarten statt bebauung
18.04.2013 Wien erklärt New York seine Wohnpolitik
22.02.2013 Reset The Space - Eröffnung von Kultur in Graz!
29.08.2012 KiG! empfiehlt: 'Kunst und Kohle'
22.03.2012 Feministische Punks zerstören Tabus
16.01.2012 Externe Evaluation der Wiener Philharmoniker durch die Beratungsfirma ABC
12.12.2011 Wir sind wütend
21.10.2011 Banken erfinden Geld aus Luft
05.09.2011 Wohin soll das führen? Einige Worte zur Verharmlosung medialer Zustände
02.08.2011 Satz des Tages:
24.07.2011 Künstler starten internationalen Aufruf zur Hilfe für Ostafrika
23.06.2011 Satz des Tages:
29.04.2011 Satz des Tages
23.04.2011 AUFRUF DER PLATTFORM 25
28.03.2011 Die Helden von der Grazer Burg
14.03.2011 satz des tages
14.03.2011 AUFRUF DER PLATTFORM 25
07.09.2010 Mehr Förderung für das Krone-Ritterfest???
31.03.2010 SO WIRD GRAZ EUROPÄISCHE DESIGNHAUPTSTADT?
15.07.2009 Simon Sheikh, Repräsentation, Anfechtung und Macht: KünstlerInnen als öffentliche Intellektuelle
08.07.2008 linz09 - Stellungnahme
17.06.2008 Feministische Lektüre im Doppelpack
15.02.2008 Kulturarbeit in der Wettbewerbsgesellschaft
30.12.2007 Schönes neues Jahr?
13.12.2007 "Recht auf Arbeit" oder "Recht auf Faulheit"?
09.07.2007 Hausbesetzung in Graz
21.06.2007 Die Buchhandlung Frauenzimmer sperrt mit 23. Juni 2007 zu
21.06.2007 BESCHEIDE OHNE GEWÄHR
18.01.2007 STURMWARNUNG
13.08.2006 Die Piraten Partei Österreichs braucht eure Unterschriften
19.07.2006 Hunderte Frauen wehren sich gegen die beabsichtigte Schließung des Autonomen Tiroler Frauenhauses
11.05.2006 Die renitenten KonsumentInnen
13.03.2006 Netzkultur-Kritik am neuen Telekommunikationsgesetz
07.03.2006 Eine skandalöse Behinderung der freien Kunstausübung!
16.02.2006 Artikel 7 - Unser Recht!
09.05.2005 Managergehälter in Österreich werden immer höher!
06.04.2005 telering -- Kunden Aufgepasst !!!
21.03.2005 Die Stadt gehört Wir!
07.03.2005 Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen.
19.01.2005 NEU - Pensionsversicherungszeiten durch Arbeitslosmeldung!
13.01.2005 Klaus-W. West: Soziale Nachhaltigkeit, Arbeit und moderne Beschäftigungspolitik
07.12.2004 Österreichs Regierung bereitet ein Gesetz vor, das den Bürger de facto entmündigt
09.11.2004 Leserinnenbrief (Grossrazzia in Asylheimen)
05.11.2004 Alexis Nshimyimana Neuberg neuer Obmann des Vernetzungsbüros Integrationskonferenz
21.10.2004 Nun verkauft die KPÖ also das EKH!!! (Ernst-Kirchweger-Haus)
19.10.2004 DIE GLÜCKLICHEN ARBEITSLOSEN : AUF DER SUCHE NACH UNKLAREN RESSOURCEN
08.10.2004 Steiermark verteidigt erfolgreich Nr. 1-Position im Geldverjubeln!
04.10.2004 Kein Verhandlungsmandat für die EU-Kommission zur UNESCO-Konvention!
23.09.2004 unfassbar! - von Kamdem Mou Poh à Hom
15.09.2004 TP: Moderne Kunst schafft neue Arbeitsplätze
03.09.2004 Jungle World in Not!
12.08.2004 FREEMONSECAMP 04
12.08.2004 FREE RE PUBLIC 04: Erfolgreiche Politisierung im öffentlichen Raum
03.08.2004 Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital
30.06.2004 Elke Murlasits: Arbeit ohne Kammer?
08.06.2004 Neue Broschuere GENDER BUDGETING
28.05.2004 Musiker sehen keine Gefahr in Online-Tauschbörsen
26.05.2004 Studie zu Creative Industries in Wien erschienen
06.05.2004 Salzburg schafft Kulturamt ab
03.05.2004 Neues MedienJournal zum Thema Freie Radios erschienen
03.05.2004 ARTWORKS - Studie: KünstlerInnen arbeiten im sozialen Feld
21.04.2004 neue Frauenbeauftragte der Stadt Graz
11.03.2004 Marlene Streeruwitz, Eröffnungsrede der DIAGONALE 2004
18.02.2004 Die Glücklichen Arbeitslosen: Mit der gebührenden Langsamkeit und ruhigem Fanatismus
13.02.2004 Start der Europäischen Kampagne: Europäisches Manifest der multikulturellen BürgerInnen-, Minderheiten- und Alternativmedien
06.02.2004 Steirische Kulturlandschaft 2004
05.02.2004 Zur Regionalisierung der Kulturförderung
05.02.2004 schriftliche anfrage an lh-frau klasnic: betreffend landes-kultur-marketing service gmbh
03.02.2004 Freie Szene übt Kritik an KSG
20.11.2003 KURATOR-BRIEF -
20.11.2003 Grazer Gemeinderat bekennt sich zur originalen Diagonale!
03.11.2003 steirischer herbst 04
13.10.2003 steuergeld zurück!
25.08.2003 Sehr geehrter Herr Stadtrat Dr. Buchmann!
12.08.2003 Andrea Knobloch, Dienst und Leistung. Personalentwicklung für "creative industries"
09.08.2003 Diskussion: Kultur und GATS - Wie soll es weiter gehen? // 11. August 2003
28.07.2003 offener brief zu den äusserungen m. gaulhofers unter dem titel
18.07.2003 Die Militarisierung Europas
09.07.2003 Die Welt als Dorf
29.04.2003 Manifest gegen die Arbeit
29.10.2002 Zur Lage der Informationsfreiheit in Europa
29.09.2002 Die Fehler der Demokraten
17.08.2002 Messer
20.06.2002 Das Schweigen brechen. Menschenrechtsverletzungen aufgrund sexueller Orientierung
29.04.2002 Überwachungsstaaaat
29.03.2002 Medien-Schlachthof
22.02.2002 Sexismus und Sexualität