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ausreißer VIII

+++ Thema: Gewalt und Diskriminierung Teil 2+++

inhalt:
/editorial
/reflux
/bestie mensch
/gewalt als politisches machtmittel
/die vergessenen
/geht’s der wirtschaft gut, geht's uns allen gut...
/ augenpaare
/„imaginierte“ diskriminierung und „paradoxe“ revolutionäre
/ normalität



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Editorial


„Gewalt und Diskriminierung“ – Teil 2 der Doppelausgabe des „ausreißer“
In der letzen Ausgabe war an dieser Stelle unter anderem von der Automatisierung von Gewalt die Rede, Gewalt per Knopfdruck, deren Auswirkungen möglichst weit entfernt vom Verursacher sichtbar, spürbar werden. Dazu sei noch hinzugefügt: Jene Entpersonalisierung, die ein Wegschauen so einfach macht, ist es zusätzlich zu einer Reihe anderer Faktoren, die die Toleranzgrenze gegenüber Gewaltanwendung dermaßen nach oben schraubt – Gewalt kommt also nicht „automatisch“, das heißt vermeintlich ohne jemandes Zutun, zustande (wie vielfach auf dieser Argumentationsschiene manipulativ vermittelt wird) sondern wird klarerweise von bewusst handelnden Personen angewandt. „Automatisch“ im Sinne von „automatisiert“ wird hingegen ihre Funktionsweise sowie das Nicht-Hinterfragen der Strukturen, die hinter solchen Prozessen stehen. Dieser Faktor beinhaltet also nicht „nur“ den auslösenden Knopfdruck beim Abwurf von Atombomben oder das Setzen der Giftspritze, die einzig für denjenigen, der sie verabreicht, schmerzfrei ist (denn die Qualen, die daraufhin für den/die Verurteilte/n folgen, sind nur nach außen hin nicht sichtbar), nein, er beinhaltet auch die Frage nach struktureller Gewalt, die allzu gern mit einer Naturgewalt gleichgesetzt wird (wie dies ja auch bzgl. der heiligen Kuh des freien Marktes eindringlich propagiert wird), gegen die man ja sowieso machtlos ist – eine aufdoktrinierte Einstellung, die den von ihr Profitierenden in höchstem Maß entgegenkommt. Jene, die dabei unter die Räder geraten – und dazu zählt eindeutig die große Masse – sollen diese gewalttätige Diskriminierung, die sie letztendlich ihr Leben kostet, stillschweigend hinnehmen, duldend ertragen und sich gefälligst nicht auch noch darüber beschweren.
Mit vorliegender Ausgabe (und in Inhalt, Kritik und Herangehensweise natürlich auch in allen folgenden) tun wir und alle, die den „ausreißer“ auf welche Art auch immer rezipieren, genau das Gegenteil: in die Quere kommen, sichtbar machen, sich weigern, hinzunehmen.

Evelyn Schalk


reflux



Fair und gerecht - Eine Definition
„...in ihrer Existenzsicherung nachhaltig gestärkt“ leben laut BZÖ-Sozialministerin Ursula Haubner 188.000 Personen (MindestpensionistInnen) 1, deren Einkommen, darin besteht die propagierte Leistung, gerade mal auf die Armutsschwelle angehoben wurde – Leben an der Armutsgrenze bedeutet also gestärkte, ja sogar nachhaltige Existenzsicherung.

„...unbeschränkt dazu verdienen“
Ein weiteres Zuckerl der Sozialministerin: ab 60 (Frauen) bzw. 65 (Männer) darf unbeschränkt dazu verdient werden! Ja, „Arbeiten in der Pension erhöht auch die Pension“ – grandios! Und die Einsparungen des Sozialministeriums, denn um so kürzer muss es überhaupt Pensionen an die Betreffenden auszahlen (so menschlich!), außer natürlich man verbringt den einen Teil seines Lebens damit, sich fit und leistungsfähig zu halten wie die joggende Dame in der Broschüre, damit man die restliche Zeit auch genug arbeiten und Steuern zahlen kann... Wachsende Arbeitslosenzahlen brauchen an dieser Stelle nicht weiter zu interessieren, dafür gibt’s bestimmt eine eigene Broschüre.

„Erhaltung der vollen Kaufkraft“
DAS zentrale Anliegen des Sozialministeriums. Pardon, da hat sich wohl ein Satz aus der Broschüre des Wirtschaftsministers eingeschlichen – na ja, „sicher ist sicher“. Die Frohbotschaft, - vitale Wirtschaft unser – soll schließlich an und so vielen Stellen wie möglich verkündet werden.

„Fair und gerecht“
Zu Beginn die Zusicherung, einer Anhebung der monatlichen Mindestpensionen 2 um ganze 27,01 € (von 662,99 € auf 690 €, Armutsschwelle!), am Ende die Beruhigung für alle anderen, die ja im Namen der Gerechtigkeit auch nicht leer ausgehen dürfen und sich auch ja nicht ausgeschlossen oder benachteiligt fühlen... Nicht einmal die, die ohnehin schon vom Glück verwöhnt und mit Pensionen über 1875 € von Papi Staat gesegnet sind. Für die gibt’s nämlich als Belohnung noch eine monatliche Erhöhung um den Fixbetrag von 46,88 €!
Also die Definition von „fair und gerecht“ lautet für Österreichs Sozialministerin Ursula Haubner: Reiche bekommen nicht nur zusätzlich noch mehr als bisher, nein, dieses Mehr beträgt auch noch beinahe doppelt so viel, wie für jene, die unter bzw. jetzt gerade an der Armutsgrenze leben!
so fair und gerecht sieht also die auf der Titelseite der Broschüre propagierte „Zukunft soziales Österreich“ aus!

Evelyn Schalk

1 Broschüre: Das Sozialministerium informiert. Die Pensionsanpassung. Zukunft soziales Österreich. 2006 (sämtliche Zitate dieses Textes sind dieser Broschüre entnommen)
2 in Form des Ausgleichszulagenrichtsatzes


bestie mensch



Der Mensch ist ein Tier, eine Bestie, getrieben vom Hunger nach Fleisch und Blut. Gewalt und Sexualität sind jene Bereiche, die die Natur des Menschen offenbaren, die ihn wieder mit der Natur, die ihn in Form der Kultur ausgestoßen hat, in Verbindung bringt. Natur besteht in keiner lauen Sommernacht und in keinem friedlichen Mit- und Füreinander der Lebewesen, die sich von den kleinsten bis zu den größten ununterbrochen fressen, zerfleischen, im wahrsten Sinne des Wortes bis auf die Knochen abnagen, wenn nicht gar alles mit Haut und Knochen in gierigen Maulschlünden verschwindet. Spricht man von der „Natur“ des Menschen, muss man ihn auch in die Ahnenkette der Tötungsmaschinen stellen und nicht in eine romantische Vorstellung der Natur, die angeblich nur aus Werden und Blühen besteht.

Die kulturelle und zivilisatorische Entwicklungsgeschichte des Menschen errichtete gegen die Natürlichkeit der Gewalt die künstliche Strategie der Tabuisierung – zunächst religiös, dann politisch und heute primär „kulturell“ motiviert. Deshalb spricht man heute vom Kampf der Kulturen, obwohl es in Wahrheit ein Kampf des „Heiligen“, also Religiösen, gegen das Entweihte, also Profane, nämlich den Kapitalismus als Religionsersatz, darstellt. Man könnte auch sagen, dass die Gewalt des militärischen Kapitalismus auf die Gewalt des Religiösen trifft, wobei das Paradox entsteht, dass die Gewalt des amerikanischen Militärapparates weniger gewalttätig erscheint als die individuelle Gewalt der Selbstmordattentäter. Aber auch in diesem „Eindruck“ spiegelt sich die kulturelle Differenz: Für die kapitalistische „Kultur“ erscheint es absolut sinnlos, sein Leben für etwas zu riskieren, dessen Profit nicht auch in diesem Leben genossen werden kann. Gerade weil die Gewalt der Attentäter keine Sinnstiftung in einem unmittelbaren Profit hat, erscheint ihre Gewalttätigkeit abstrus und apokalyptisch. Für die kapitalistische Kultur ist eine Sinngebung der Gewalt durch das Religiöse nicht mehr gegeben.
Die Tabuisierung von Gewalt, entstanden aus der Notwendigkeit, dass sich die eigene Horde (Stamm, Volk, Nation, politische Klasse, Kultur) nicht gegenseitig schwächt, transformierte den natürlichen Gewaltakt jedoch in ein kulturelles Phänomen, wobei das „Recht“ auf Gewalt vom Individuum an das Kollektiv, also die Gesellschaft überging. Die gewalttätige Natur des Einzelnen musste sich der gewalttätigen Kultur der Gemeinschaft unterordnen – eine Kultur, die die Macht und Disposition zur Gewalt nicht nur in Verboten repressiv gegenüber den Individuen einsetzt, sondern diese durchaus produktiv zu regulieren und zu beherrschen sucht. Die kulturell-zivilisatorische Alternative zur eruptiven, unkontrollierten und willkürlichen Gewaltausübung, d.h. also gegenüber der natürlichen Gewalt, ist bis heute nicht die Ausmerzung der Gewalt in Form einer gewaltlosen Kultur, sondern im Gegenteil die Effizienzsteigerung jedweder kollektiven Gewalt.

Heute besteht die größtmögliche Differenz zwischen der für das Individuum innerhalb der Gemeinschaft verbotenen Gewaltausübung und der für das Kollektiv als „Notfall“ erlaubten – der atomaren Apokalypse. Dem entspricht auch, dass die Mechanismen der regulativen Gewaltkontrolle auf der Ebene des Individuums bis in die Bereiche der Erziehung bzw. des ehelichen Zusammenlebens (analog zur Regulierung des sexuellen Verhaltens) – also bis in die Mikrostruktur des alltäglichen Lebens reicht, während das kollektive Ganze der Gemeinschaft zur größtmöglichen Gewalteskalation fähig ist. In dieser Schere zwischen der mikrostrukturellen Gewaltregulation auf individueller Ebene und der Unvorstellbarkeit der für die Gesellschaften als Ganzes möglichen Gewaltausübung, spielen sich die verbotenen oder erlaubten Geschichten, Ausbrüche und Manifestationen der Gewalt ab. Auf der einen Seite steht das Verbrechen, von Autoraserei bis kaltblütig geplanten Morden, von Wirtshausschlägereien bis Vergewaltigungen – auf der anderen Seite stehen die medialen Inszenierungen der Gewalt in Presse, Film und Computerspielen, deren Faszinationskraft proportional zur Ausweitung, Verfeinerung und Überwachung der gesetzlichen Gewaltverbote zunimmt. Diese Medieninszenierungen funktionieren weitgehend (d.h. im Normalfall) als Kompensation dessen, was das Individuum nicht darf – nach dem Motto: Was man nicht machen darf, will (kann) man wenigstens sehen – analog zur Funktionsweise der pornografischen Darstellung. Immer geht es darum, wenigstens zu sehen, was man nicht haben (oder machen) darf oder kann. In diesem Sinne sind die medialen Aufbereitungen von Gewalt und Sexualität nichts anderes als kulturell-gesellschaftliche Regulationsmechanismen mit eindeutig festgelegter Funktionalität: als Wahrnehmungskompensation von Gewalt, die im durchzivilisierten Alltagsleben Gott sei Dank kaum mehr erfahrbar ist.

Allerdings hat dieser kulturelle Kompensations-Mechanismus ein möglicherweise fatales „Umkehrungspotential“: Da wirkliche Gewalt (und deren Folgen wie Schmerz und Leiden) nicht mehr unmittelbar erfahren wird, ist sie – sollte sie doch ausbrechen – vom Einzelnen nicht mehr einschätz- und beherrschbar. Der Erfahrungsverlust darüber, welche Folgen eigene oder fremde Gewalt haben kann, impliziert auch den extremen Verantwortungsverlust gegenüber gewalttätigen Aktionen. Gewalt wurde – offenbar entgegen der Gewaltflut in den Medien – im Grunde zum Abstraktum der eigenen Erfahrung. In Filmen sieht man keine „nackte Gewalt“ zwischen Einzelnen (diese fällt dem „Geschmack“ zum Opfer!)– dafür stirbt man reihenweise im supermodernen Kugelhagel oder im pyrotechnischen Explosions- und Feuertheater: So geht aber jeder Bezug zum Sterben eines Menschen als Individuum, zu Schmerz und Unrecht verloren. Ebenso im „Geschicklichkeitstest“ der interaktiven Spielkonsolen – auch hier siegt die abstrakte Zahl der getroffenen, jedoch nur virtuellen Gegner. Gewalt als unmittelbare Erfahrung ist zum bloß abstrakten Phänomen degeneriert. Die Bilderflut zerstört die Gewalttätigkeit der Gewalt!
Und genau das erscheint als paradoxe Logik all dieser Tendenzen: Schon die militärtechnische Entwicklung reduziert den Gewaltakt auf das Drücken eines Knopfes, so dass die Opfer völlig anonym bleiben, die soziale Gemeinschaft eliminiert Gewalt so weit wie möglich als Lebenserfahrung ihrer Mitglieder und die medial inszenierte Gewalt wird zum gesichtslosen, ästhetischen Effekt: Zusammen mit der extremen Tabuisierung von Gewalt auf individueller Ebene ist dies die widersprüchliche, aber notwendige Voraussetzung für jene exzessiven Gewaltausbrüche, die tagtäglich auf den Bildschirmen zu bloßen Nachrichten abstrahiert werden. Wenn Gewalt und ihre Folgen unvorstellbar, weil völlig abstrakt sind, ist der extremste Gewaltakt möglich.
Wer keinen konkreten „Begriff“ der Gewalt, die man verursachen kann, hat, dem fehlt auch ein Begriff der „Verantwortung“, der Gewaltausbrüche auf individueller oder auch gesellschaftlicher Ebene noch in Grenzen halten könnte. Das eigentliche Dilemma ist also das Fehlen eines „Erfahrungs-Rahmens“ der Verantwortung – denn auch das ist eine Folge der zunehmenden (sozialen) Abstraktion: Man ist zwar irgendwie allen gegenüber verantwortlich, aber was dies im Einzelnen bedeutet, weiß niemand – denn wenn „alle Menschen“ Brüder (Schwestern) sind, hat man in Wahrheit keine/n mehr! Schon die Crew jenes Bombers, der die Atombombe an ihr Ziel brachte, fühlte sich nicht mehr „wirklich“ verantwortlich, weil die „Wirkung“ der Bombe jede Vorstellung überschritt, das Ausmaß der Zerstörung und des Leidens jedes menschliche Vermögen überstieg. (Selbst die an der Entwicklung beteiligten Wissenschaftler beriefen sich ja im Grunde auf den Umstand der Unvorstellbarkeit!) Die weitere Argumentationslogik berief sich auf die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bzw. auf die Befehlshierarchie.
Bezeichnend für die heutige „Gewaltkultur“ sind aber jene individuellen Gewaltausbrüche, die alle „menschlichen“ Grenzen zu übersteigen scheinen: mordende, folternde und vergewaltigende Schulkinder, die Ermordung Neugeborener in Serie – beides Phänomene unserer „reichen“ Gesellschaft! Gerade diese Ereignisse haben eine Gemeinsamkeit: Die Unfähigkeit der Gewalttäter(innen), sich ihrer konkreten Verantwortung bewusst zu sein, weil sie keinen Begriff von Verantwortung besitzen!
Daraus lässt sich ein weiteres Merkmal unserer „Kultur“ ableiten: Parallel zur Produktion einer Unvorstellbarkeit von „wirklicher“ Gewalt gibt es offenbar eine gesellschaftliche Produktion individueller Verantwortungslosigkeit – eine Strategie, die Jahrtausende lang in der politisch-militärischen Struktur der Befehlshierarchie praktiziert wurde. (Man erinnere sich an den Eichmann-Prozess: Als einer der führenden Befehlsgewaltigen des NS-Regimes hinsichtlich der industriellen Vernichtungsmaschinerie berief er sich in seiner Verteidigung unentwegt auf seine Funktion als Befehlsempfänger, was ihn (seiner Logik gemäß) zu einem lediglich ausführenden Organ ohne Eigenverantwortung machte.) Erschreckender Weise scheint sich dieses militärische Organisationsprinzip auch gesamtgesellschaftlich festzusetzen. Die Verantwortungsinkompetenz des Einzelnen steigert die Effizienz des sozialen Ganzen – nach dem Motto: wer nicht denkt, funktioniert am besten! Wenn die Gesellschaft (Staat, Politik) es will – werden wir alle zu funktionierenden Bestien ohne jegliche Eigenverantwortung. Die individuellen und völlig unmotiviert erscheinenden Wahnsinnstaten der letzten Jahre geben eine Ahnung davon, wie eine Gesellschaft ohne einem Prinzip individueller Verantwortung funktionieren wird.

Gewalt erscheint also in folgende gesellschaftliche Funktionsmechanismen „eingebettet“ zu sein:
a) Unvorstellbarkeit von Gewalt aufgrund einer Tabuisierung und medialen Abstraktion konkreter Gewalterfahrung. (Bilder dienen eigentlich nur der Gewaltverschleierung! So zeigten die Filmaufnahmen des Anschlags vom 11. September zwar die brennenden und schließlich einstürzenden Türme, aber nichts von der unvorstellbaren Gewalttätigkeit, die hinter dieser Apokalypse stand – beinahe analog zum Paradox, dass sich ja auch die meisten Opfer im wahrsten Sinne des Wortes in Staub und Rauch auflösten. Diese ätherische „Auflösung“ der Gewalt zeigte sich bereits bei der (in dieser Hinsicht beinahe perfekten) Technik der Atombombe (oder auch in den Verbrennungsöfen des Nazi-Regimes): die Opfer lösten sich in verwehenden Staub auf! Nichts von grausamer Gewalt mehr – je umfassender der Gewaltakt, um so weniger scheint davon zu sehen zu sein!)
b) Die Produktion individueller Verantwortungsinkompetenz durch Abstraktion der sozialen Verhältnisse. Hier sind zwei grundsätzliche Aspekte zu differenzieren, die sich aber gegenseitig ergänzen und verstärken: Einerseits erweist sich in Gesellschaften, in denen im Grunde alles zu haben ist, dass nichts mehr einen besonderen Wert besitzt – auch hier verliert sich das Gefühl einer besonderen „Verantwortung“ als Wert gegenüber Dingen und Menschen – beides landet in der Müllgesellschaft auf der Müllhalde.
Andererseits soll man auf moralischer Ebene gegenüber allen Menschen eine Verantwortung haben, d.h. Verantwortung soll universell (moderner „global“) ausgeübt werden: Dies bringt schlichtweg eine Überforderung mit sich, weil man nicht weiß, wie dies funktionieren soll. Und kaum jemand versteht wirklich, dass, wer einem Menschen hilft, der gesamten Menschheit hilft – wir sind eben nicht Mutter Theresa! D.h. wir wissen in Wahrheit nicht, für wen, für welche Person wir verantwortlich sein sollen. Verantwortung ist damit völlig abstrakt. Deshalb verlieren wir die Fähigkeit zu konkreter, erlebter Verantwortung – sowohl in positiver wie negativer Hinsicht! Und wer keine Verantwortung mehr hat, muss auch nicht mehr selbst entscheiden, was gut und schlecht ist – d.h. jeder von uns könnte die Atombombe zünden, ohne sich dafür verantwortlich fühlen zu müssen!

Erwin Fiala


gewalt als politisches machtmittel


am Beispiel Grenada

Irak und Afghanistan sind gegenwärtig, Serbien fast schon wieder vergessen, aber wer kann sich z.B. noch an die Invasion der USA am 25.10.1983 unter dem, mittlerweile am Alzheimer verstorbenen Ronald Reagan auf die Karibikinsel Grenada erinnern?
Wie einem die damals angegebenen Gründe bekannt vorkommen: „Bedrohung der amerikanischen Sicherheit”, „geheime Waffenlager”, „Gefahr einer kubanischen Machtübernahme”, „Gefährdung von US Bürgern”... alle Argumente verschwanden kurz nach der Invasion in der Schublade. 7300 amerikanische Soldaten stürmten auf die 34 km lange und 20 km breite Insel mit 9900 Einwohnern (!). Die inhaftierten Mitglieder der damaligen Regierung sitzen noch heute ohne ein schriftliches Urteil im Gefängnis. Die UNO verurteilte zwar sowohl die Invasion, als auch die offenen Menschenrechtsverletzungen, aber die Weltöffentlichkeit nahm in Zeiten eines Ronald Reagan und einer Margret Thatcher eigentlich keinerlei Notiz von dem verbrecherischen Überfall. Leider haben Ereignisse kurz vor der Invasion zur Ermordung des populären Premierministers Maurice Bishop geführt und so gab es auch auf Grenada nur wenig Widerstand gegen diese Invasion. Die Leiche von Maurice Bishop wurde übrigens von den amerikanischen Militärs ausgegraben und an einem bis heute noch nicht bekannt gegebenen Ort verscharrt.

Ein paar Informationen zur Vorgeschichte:
Grenada wurde von den Spaniern „entdeckt”, war eine Zeitlang unter französischer Herrschaft und dann lange unter britischer Herrschaft. Die Insel gehört zum Commonwealth und wurde, 1974 unabhängig. Staatsoberhaupt ist die britische Königin, die einen Generalgouverneur (derzeit Sir Daniel Williams) einsetzte. Der heutige Regierungschef der konservativen „National Party” heißt Keith Mitchell.

Seit 1951 wurde Grenada von Premierminister Eric Geri regiert, der sich mehr und mehr zu einem Diktator entwickelt hat. Maurice Bishop gründete 1972 die Bewegung „New Jewel Movement” („Jewel” steht für „Joint endeavour for welfare, education and liberation), die besonders nach dem „Blutmontag” am 21.01.1974 großen Zulauf erhielt. An diesem Montag schossen die Militärs ohne Vorwarnung in eine Demonstration gegen die Regierung Geri und töteten dabei auch den Vater von Maurice Bishop. Geri konnte sich mit Hilfe des CIA, des großbritannischen Geheimdienstes und den chilenischen Militärs von Auguste Pinochet noch 5 Jahre an der Macht halten. Am 13.03.1979 aber überfielen Mitglieder des „New Jewel Movement” die größte Kaserne des Landes und besetzten die Rundfunkstation. Das besiegelte das Ende von Eric Geri´s Diktatur und Maurice Bishop verkündete über „Radio Free Grenada” die „People's Revolution” mit den drei großen Zielen: Basisdemokratie, Landreform und Ausbildung. Diese Revolution geriet sehr bald unter den Beschuss der USA, die ein „zweites Kuba” fürchteten und verhindern wollten, dass Ihnen der Zugang zu den großen Ölfeldern vor der venezuelanischen Küste, die schon lange auf der Wunschliste der großen amerikanischen Ölfirmen stehen, verloren geht (übrigens auch ein Grund für die derzeit laufende Hetzkampagne gegen den derzeitigen Präsidenten Venezuelas Hugo Chavez). Außerdem hat der Cowboy-Darsteller Ronald Reagan im Herbst 1979 die Wahl gegen Jimmy Carter gewonnen und gleich den Kampf gegen die „Mächte des Bösen”, wie die UdSSR, Libyen, Kuba und eben auch Grenada proklamiert. Die USA erreichten die Streichung von Auslandskrediten der Regierung Grenadas und förderten rechte paramiltärische Gruppen, die auch vor Bombenattentaten nicht zurückschreckten. So explodierte im Juni 1980 im „Queen's Park” der Hauptstadt „St. George's” eine Bombe bei einer Versammlung des „New Jewel Movement” und tötete drei junge Frauen.
Das Problem für die bald auftauchenden Invasionspläne der USA war die große Beliebtheit von Maurice Bishop bei der Bevölkerung und den Widerstand den er bei einem solchen angekündigt hat. Da kam den USA die Ereignisse im Oktober 1983 als Anlass für diese Invasion gerade recht.
Schon 1982 kam es zu Auseinandersetzungen im Zentralkomitee des „New Jewel Movements”, da einige Mitglieder und besonders der stellvertretende Premierminister Bernard Cord Maurice Bishop eine Neigung zum Personenkult vorwarfen und ein „joint leadership” forderten. Bishop war aber anderer Meinung und Bernhard Cord nahm ein ganzes Jahr nicht an den Sitzungen der Regierung teil. Im Oktober 1983 besuchte Maurice Bishop nach einer Reise durch Osteuropa Kuba und Fidel Castro riet ihm ebenfalls, die Parteiführung nicht aus der Hand zu geben. Daraufhin stellte Bernard Cord Bishop nach seine Rückkehr unter Hausarrest. Nach Bekanntgabe dieser Maßnahme über „Radio Free Grenada” kam es zu spontanen Demonstrationen von Schülern („no Bishop, no school”, nach dem Thema von Bob Marleys „No woman, no cry”) und den Hafenarbeitern. Am 19.10.1983 befreite eine Menge Bishop und besetzte mit ihm Fort Rupert, das Hauptquartier der Armee. Die Armee beginnt zu schießen und in dem Tumult werden Maurice Bishop und 15 seiner Getreuen an die Wand gestellt und erschossen. Bis heute ist nicht genau erwiesen, wer die Anordnung zur Ermordung von Maurice Bishop und inwieweit der CIA seine Hände im Spiel gehabt hat. Ein Militärrat unter Bernard Cord übernahm am Tag darauf die Macht (Fidel Castro verurteilt diese Konterrevolution).
Mit der Exekution von Maurice Bishop hatten die USA nun den perfekten Vorwand für ihre schon lange vorher geplante Invasion und mussten auch nicht großen Widerstand befürchten, den Maurice Bishop Wochen zuvor im Falle einer Invasion angekündigt hatte. Ab 25.10.1983 wird die Hauptstadt St. George's beschossen („Radio Free Grenada” kann sich noch zwei Tage halten, da der CIA keine Angaben über dessen Standort hatte) und am 28.10.1983 stürmen dann 7300 Soldaten die Insel. Bernard Cord und die Mitglieder des Zentralkommites des „New Jewel Movement” werden verhaftet, als „politische Gefangene” jeder Rechte beraubt, verschleppt, gefoltert und zum Tode verurteilt; das Urteil wurde danach von der Regierung Grenadas in lebenslänglich umgewandelt und wie schon oben erwähnt sitzen Bernard Cord und die Mitglieder noch heute ohne schriftliches Urteil im Gefängnis. Sämtliche Unterlagen und Dokumente wurden von den USA beschlagnahmet und bis heute nicht herausgegeben. 18 Monate blieben die amerikanischen Soldaten auf Grenada, inhaftierten 3000 Menschen (!), ließen andere Gefangene wie die Bombenattentäter vom Juni 1980 frei und errichteten im Süden bei „Point Salines” einen U-Boot Stützpunkt. Natürlich wurden auch die Reformen des „New Jewel Movement” zurückgenommen. Nach der Sicherung der Interessen der USA verließen die Soldaten die Insel, die seither wieder in die Vergessenheit geraten ist. Grenada muss die meisten Lebensmittel importieren, die Versorgung ist generell sehr schlecht, der Tourismus kommt ob der hohen (englischen) Preise nicht auf Touren und auch der Weltmarktpreis des Hauptexportartikels, die Muskatnuss, ist verfallen.

Berndt Luef


die vergessenen



Ihr name scheint in keiner statistik auf
ihr tod geht in nie geführte chroniken ein
ihr schicksal taugt nicht für malerische poster,
die aufstände beschwören
die andere für uns ausfechten sollen.

sie sind das schwarze loch
das millionen einsaugt
dieser ewig letzten der welt unbeachtet
von allen kameras und mikrophonen
und friedensmärschen.

sie sind das rohstofflager
die mülldeponie
das feld noch nicht entschiedener schlachten
um erdöl und kobalt
das land aus dem der feind kommt
hungrig und ausweglos
sich zu leichenbergen türmend
zu füßen der angeblich besseren großmacht.

sie sterben an kinderkrankheiten
und nicht gefüllten schüsseln
in einem system, das genug lebensmittel
für alle zu produzieren vermag.

sie werden waisen mit zehn jahren,
während aids ihr dorf auslöscht,
verlassen von einer kirche, die um moral
sich sorgt und kondome verbietet.

sie fliehen vor mordenden truppen
die ihre berge säubern
für die gewinne von ölkonzernen,
die europa mit strom beliefern.

kindersoldaten, die das schlachten lernten,
von landminen zerfetzt beim spielen
das kurze leben entrissen
von gewehren aus frankreich
und macheten aus china.

manchmal streifen sie den bewaffneten frieden
in überfüllten booten und elendslagern
vor sonnigen küsten und schüssen. scharf endgültig.
zurückgetrieben
abgeschoben und ausgesetzt im niemandsland

Die wüste afrikas ist groß und fern genug,
um im rahmen bilalteraler abkommen
auch noch den tod dieser überlebenden

zu verbergen und tief
zu begraben im schwarzen loch
das den wohlstand von immer weniger nährt.

kollateralschäden der wertegemeinschaft
des abendlandes
und
unserer vergesslichkeit.

Ines Aftenberger


geht’s der wirtschaft gut, geht's uns allen gut...


Patentrezepte der Funktionseliten, ZeitungsredakteurInnen & Co „gegen die neue Arbeitslosenplage” 1

1. Warten auf bessere Zeiten:
Wenn die Konjunktur anspringt - Zeitpunkt möglicherweise demnächst, aber nicht näher bestimmbar -, dann könnte das positive Auswirkungen auf „den Arbeitsmarkt” haben (wenn der Konjunkturansprung eine bestimmte Größe erreichen würde), gibt sinngemäß der zuständige Minister vor oder zu oder so.
Bei genauerem Hinschauen sieht man, dass die Wirtschaft sowieso ständig wächst, v.a. aber die Gewinne der Konzerne, aber wenn „die Arbeitslosen” schneller wachsen als die „für sie” geschaffenen Stellen, kann selbst der Beste nicht viel machen.

2. Mehr Aus- und Weiterbildung: für Arbeitslose! für alle Arbeitslose! und noch besser: „präventiv”!!, also
• für ALLE (außer unseren Funktionseliten - die sind ganz solidarisch untereinander, sodass niemand (von ihnen) der soziale Abstieg droht) und
• am besten „lebenslang”! Auch die PensionistInnen, damit sind sie für irgendetwas nützlich und bleiben gleich am Laufenden, falls „die Wirtschaft” sie braucht, oder die Politik: wenn „wir” die Pensionen nicht mehr finanzieren wollen/können - Gürtel auf „Ganz ENG” geschnallt: sozialpolitisch verordnete, kollektive Anorexie (Schlankheitswahn bei vollen Tellern) -, dann müssen eben ALLE arbeiten, ist eh lustig und bereichernd! - und niemand hat Zeit, den/die dafür ZuständigeN, VerantwortlicheN zu fragen.
Dass mehr Aus- und Weiterbildung nicht „automatisch” zu mehr Arbeitsplätzen, zu weniger Arbeitslosen führt, wird je nach Lust und knapp kalkuliertem Platz hinzugefügt. Und wenn eine neue Untersuchung zeigt, dass die Mehrheit der Arbeitslosen BrillenträgerInnen sind, gibt's dann Sehtraining oder - noch effizienter - eine schnelle Kontaktlinsenanpassung? Als weitere hilfreiche Maßnahme zur Bekämpfung der „Arbeitslosenplage” - vom AMS verordnet (pardon: mit dem/der KundIn vereinbart), von Trainings-Firmen exekutiert.

3. Kürzung der Leistungen für und Rechte von betroffenen Menschen, weil zu weich liegen ist ungesund - und wir wollen/sollen doch alle gesund sein (keine weiteren Erklärungen).

4. Jetzt NEU! Abschieben: Von
• schlecht qualifizierten AusländerInnen, ins Ausland. (Das Kriterium schlecht qualifiziert beweist zum wiederholten Maß, dass nur der Wählermob, nicht aber unsere Funktionseliten ausländerfeindlich sind - weil ihresgleichen darf bleiben, ohne Rücksicht auf Herkunft und Geschlecht) und von
• Langzeitarbeitslosen: egal wohin, Hauptsache weg aus Arbeitslosenstatus und -statistik:
auf irgendeinen Arbeitsplatz, Ausbildung und bisherige Laufbahn egal, aber garantiert über 333 € Bruttolohn (das haben wir den Sozialpartnern zu verdanken! Danke AK+ÖGB!),
in irgendeine „AMS-Maßnahme” (siehe oben),
in irgendeine Selbständigkeit, echte oder neue (so heißt modern das Gegenteil von echt),
an irgendeine andere Stelle: zum Sozialamt, in die Geschlossene (Drogen!), in die Frühpension (egal ob's die noch gibt), usw. usf.

Forderungen nach Grundsicherung (Transferleistungen wie Arbeitslosengeld, Notstandshilfe für Langzeitarbeitslose 2, Sozialhilfe etc. in existenzsichernder Höhe, d.h. zumindest nicht unter der Armutsgrenze von 785 € liegend) oder bedingungslosem Grundeinkommen für alle, sodass niemand hungern oder frieren muss werden als „utopisch, weil nicht finanzierbar“ und „leistungsfeindlich“ abgelehnt. 3
Dass Österreich ein Steuerparadies für SpitzennverdienerInnen ist (internationale Vergleichs-Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, 4 interessiert in dem Zusammenhang niemand. Bei 18 untersuchten EU-Ländern wird Österreich an der zweiten Stelle (hinter der Slowakei) bei der steuerlichen Begünstigung hoher Einkommen gereiht. Bei der Vermögensbesteuerung (Vermögen-, Erbschafts-, Grundsteuern) reiht die OECD Österreich mit 1,3% (aller Steuern und Beiträge) sogar an letzter Stelle. Insbesondere durch die Möglichkeit, Vermögen in Privatstiftungen anzulegen, die per einstimmigem Nationalratsbeschluss seit 1.9.1993 nicht mehr gemeinnützig und mildtätig sein müssen, wurde hier ein Steuerparadies für Reiche geschaffen. Das in Privatstiftungen geparkte Vermögen wird auf 40 bis 45 Milliarden Euro geschätzt, zwei Drittel davon entfallen auf Unternehmensbeteiligungen, Einkommen daraus werden degressiv besteuert: je mehr Vermögen, desto weniger Steuern sind zu zahlen, völlig steuerfrei sind z.B. Dividenden aus in- und ausländischen Aktien. Zu den großen „Stiftern” gehören in Österreich Unternehmer wie Frank Stronach, Dietrich Mateschitz, Hans-Peter Haselsteiner, Karl Wlaschek, Richard Lugner, Robert Hartlauer, Karl Flick, Politiker wie Martin Bartenstein und Thomas Prinzhorn und der alte Adel (Auersperg, Czernin, Schwarzenberg).
Finanzierungsmöglichkeiten gäbe es genug in einem der reichsten Länder der Welt.
Stattdessen aber darf sich Herr Trenkwalder, Gründer der gleichnamigen Personalvermittlungsfirma, „Austrian Islands mit Billiglöhnen“ zur Lösung der „Arbeitslosenplage“ wünschen. 5 Denn, beklagt sich Trenkwalder weiter, die ÖsterreicherInnen seien schon sehr träge, die schlechte Arbeitsmoral hierzulande gegenüber Osteuropa, „wo Junge in einer aggressiven Aufbruchstimmung etwas leisten wollen“ und Lohnebenkosten für Unternehmen nur 2 € die Stunde betragen, lasse sie gar nicht erkennen, welche Gefahr auf sie zukomme.
Und diesen dummen und faulen Leuten muss man eben mit radikalen Maßnahmen – selbstverständlich nur zu ihrem eigenen Besten! - helfen: „Das müssten steuer- und sozialrechtlich abgeschottete Bereiche sein, die von den Sozialpartnern streng kontrolliert würden. Die Löhne dort sollten dem entsprechen, was Leute mit niedriger Qualifikation an Arbeitslosengeld bekommen.

Romana Scheiblmaier, Wolfgang Schmidt

1 W. Simonitsch, Kleine Zeitung vom 2.1.06
2 die durchschnittliche Notstandshilfe für Langzeitarbeitslose beträgt für Männer 607 €, für Frauen 475 €
3 E. Zankel, Kleine Zeitung, 24.12.05
4 siehe Der Standard von 24.12.05
5 Interview in der Kleinen Zeitung, 28.11.05


augenpaare



Weil es nicht egal ist
die Diskussionen über die Bilder
Weil es nicht nebensächlich geworden ist
das Sterben auf dem Bildschirm
Weil unsere konsumerstickte Überdrüssigkeit
es nicht beendet, sondern auslöst
Weil unser Hinschauen
vielleicht nicht das Geschehen in diesem Moment verändert
sondern weil es uns verändert

und damit auch irgendwann
mit den Diskussionen die Bilder
und mit den Bildern
das Sterben nicht nur auf dem Bildschirm verhindert
und in uns etwas auslöst,
das wir schon erstickt sahen
und das diesen Moment
nicht gleichgültig macht.

Evelyn Schalk


„imaginierte“ diskriminierung und „paradoxe“ revolutionäre



Im Sinne der Aneignung eines revolutionären Habitus' präsentieren sich reaktionäre Gruppierungen innerhalb hegemonialer Formationen als verfolgte Minderheiten. Sobald diese Schein-Diskriminierten daraus ein Recht auf Gewalt ableiten, wird es zusätzlich problematisch.

Mädchen werden gegenüber Buben, ethnische Minderheiten gegenüber den „Einheimischen“ bevorzugt – oft gehörte, leicht paranoide Aussagen. Sich selbst mit einer (eingebildeten) Diskriminierung zu „schmücken“, um die eigene Besonderheit zu betonen, kommt nicht selten vor. Kein Zweifel, es gibt eine tagtäglich erfahrbare Diskriminierung, das soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Es wäre nun leicht, sich einer typisch postmodernen Sichtweise zu bedienen und zu behaupten, dass „Diskriminierung“ jedeN treffen kann. Immerhin haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so verschoben, dass mensch kaum mehr die eigentlichen Opfer ausmachen kann, weil die Zuschreibungen so beliebig geworden sind. Der amerikanische Autor R. A. Wilson meint etwa im Feminismus eine Verschwörungstheorie zu sehen, weil mensch nicht von „dem Mann“ sprechen könne, der „die Frau“ unterdrückt. Eine logische Schlussfolgerung ist das allerdings nur dann, wenn mensch, wie Wilson, strukturelle Unterdrückungsmechanismen ausblendet.
Verfolger stilisieren sich zu Verfolgten

Dennoch gibt es Bestrebungen von Individuen und Gruppen, zur Bestimmung der eigenen Identität einen Nimbus des Verfolgt-Werdens aufzubauen, ohne selbst je tatsächlich darunter gelitten zu haben. Während vor allem für Menschen jüdischen Glaubens die Verfolgung durch die Nazis grausame Realität war, wähnen sich „Deutschgesinnte“ durch Re-Education, Frankfurter Schule usw. verfolgt. Auf der Seite der Opfer des NS-Regimes reale Verfolgung, die bis heute ihre Kreise zieht, auf der anderen eine Wahnvorstellung, die gerade im vergangenen „Gedankenjahr“ wieder aufflammte. Die ideologischen NachfahrInnen der TäterInnen von einst konstruieren sich so einen eigenen Mythos, der sie mit einem revolutionären Schein umgibt. Das ist aber nicht allein eine Methode von ExtremistInnen, da es Mode geworden ist, auf seine Herkunft zurückzugreifen, um die eigene Besonderheit in einer multikulturellen Gesellschaft zu platzieren. Zur Identitätskonstruktion werden oft simple Rollenbilder unhinterfragt aufgegriffen. Dafür sind weiße Rapper wie Eminem und insbesondere der deutsche Fler („Die Deutsche Welle“) gute Beispiele, die ihre eigentlich hegemoniale Position als weiße Männer in der Masse der farbigen/ethnischen Minderheiten untergehen sehen. Das tun sie nicht unbedingt aus einer rassistischen Haltung heraus, sondern vielmehr aus einem Mangel an Reflexion, der aber eine Vereinnahmung aus dieser Ecke möglich macht.
Norm-Konstrukte und ihre Folgen

Vielfach basiert eine solche Konzeption auf dem schlichten Grund, dass sich diese Individuen oder gar Schichten nicht ihrer eigenen hegemonialen Position bewusst sind. „Weiß-Sein“ wird als Norm gewertet, so die deutsche Wissenschafterin Eske Wollrad, Vertreterin der „Critical Whiteness Studies“, während alles davon abweichende speziell benannt werden muss – es sind zwar „schwarze“ Viertel und „schwarze“ Musik genau definiert, aber es gibt keinen entsprechenden Gebrauch von Begriffen für „weiße“ Musik oder „weiße“ Viertel. Dennoch wird diese hegemoniale Stellung von ihren TrägerInnen als eine Leerstelle wahrgenommen, die sie auszufüllen suchen. Die Konstruktion der eigenen Identität beginnt etwa mit der Festschreibung regionaler Besonderheiten, die über schlichte Gebräuche oder kulinarische Spezialitäten hinausgehen. Gut vorexerziert hat dies der Bioregionalismus, ein esoterischer Versuch regionaler Sinnstiftung (plus Naturgeister) und Festschreibung von mystifizierten Heimatklischees bei gleichzeitiger Ausblendung von kulturellen Dynamiken und Migration.
Gewalt als Reaktion auf ein imaginiertes Bedrohungsszenario

Dies wird umso komplizierter, wenn sich die TrägerInnen solcher Konstruktionen ihrer hegemonialen Position bewusst sind, sie aber von allen Seiten bedroht sehen und daraus ein Recht auf Gewalt zur Wahrung ihrer Rechte ableiten.
Die Anwendung von Gewalt wird von Herrschenden als ihnen zustehendes Privileg ausgelegt und somit legitimiert. Im Fall einer sich als diskriminiert inszenierenden Gruppe vermengen sich hier die eingebildete Verfolgung und die eigentliche hegemoniale Position der Akteure zu einem explosiven Cocktail. Da für die herrschende Schicht stets Gewalt das Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen war und ist, ist sie auch für die angeblichen Verfolgten ein probates Mittel. Um es plakativ zu formulieren: Osama Bin Laden gehört als Spross einer reichen saudischen Familie nicht einer verfolgten Minderheit an, trotzdem sieht er sich durch den Westen in seiner Identität als gläubiger Moslem bedroht. Ähnlich auch die Gedankengänge bei christlichen FundamentalistInnen, deren Weltbild von einer allgegenwärtigen teuflischen Bedrohung geprägt ist, die sie nur durch die totale Unterwerfung unter ihren Glauben bezwingen können. Dabei lassen sie den realen Einfluss, den die öffentlich wirkenden Mitglieder ihres Lagers haben, ganz außer Acht.
Revolutionärer Habitus mit systemstärkenden Folgen

Einen weiteren wichtigen Faktor in diesem Zusammenhang repräsentiert der revolutionäre Habitus, mit dem sich diese Gruppierungen umgeben. Der Rebell entsteht in der Unterdrückung, er ist der Diskriminierte, der so seine Taten legitimiert. In unserem Fall des imaginierten Verfolgten nimmt dieser eine hybride Stellung ein, da er eine Stärkung des herrschenden Systems bewirkt – indem seine Aktionen härtere gesetzliche Maßnahmen nach sich ziehen, die gerade seine tatsächlichen Opfer treffen. Das Vorgehen eines solchen paradoxen Revolutionärs ist daher genauso ambivalent wie seine Position, da er sich in seinen Taten gegen den herrschenden Konsens stellt, aber mit ihnen das hegemoniale System bedient, was ihm ferner ein gewisses Maß an (Straf-)Freiheit gewährt. Hier ist ferner die strukturelle Ebene von Gewalt zu bedenken: In den 1990ern stellte Jörg Haider den paradoxen Revolutionär par excellence dar, indem sich der Porschefahrer zum Rächer des kleinen Mannes ernannte. In dessen Namen stellte er medienwirksam die Forderung nach Law & Order, profitierte von einer aufgeheizten Stimmung gegen MigrantInnen – und war damit alles in allem der Festschreibung reaktionärer Diskurse in Österreich dienlich.
Eine weitere Dimension der hier skizzierten Methode seitens hegemonialer Gruppen, sich das Stigma der „Diskriminierung“ anzueignen, ohne aber die gesamten Konsequenzen spüren zu müssen, liegt darin, dass damit die von Diskriminierung Betroffenen abermals ihrer Besonderheit beraubt werden. Indem diese Begriffsfelder bis zur Perversion der ursprünglichen Bedeutung ausgeweitet werden, dient auch die bloße Existenz des paradoxen Revolutionärs der Fixierung des Systems. Kann sich anhand einer solchen Ausgangslage jedeR als diskriminiert, unterdrückt oder verfolgt zählen, gehen die reale Diskriminierung und ihre Bekämpfung unter diesen penetranten (Selbst-)Inszenierungen unter. Haupts Männerabteilung im Frauenministerium war so ein Ansatz, wie die Benachteiligung von Frauen institutionell umgedreht werden sollte. Doch wie kann man solche Inszenierungen und Verdrehungen scheitern lassen? In einer Zeit, wo sich jeder individuell auf seine Besonderheiten berufen kann, wird es nicht leicht fallen, den Unterschied zu erkennen. Doch es gilt, gerade dafür ein Bewusstsein zu schaffen.

Makus Mogg


normalität



Ihre blicke sind
in die schwarzen zahlen versunken
die ellbogen wund
die stiefelspitzen mit nägeln beschlagen.
Ihre zeit ist zu teuer um
innezuhalten
wenn sie achtlos hinwegtreten
über die stürzenden,
derer sie bisweilen
mit spenden gedenken
ein licht im dunklen.

Sie klammern sich
an seile aus messerschärfe,
die den schwächeren
die atemwege schon zerschneiden.
In der grundlosen annahme,
dass sie sich selbst
nie in der schlinge verfangen,
die der einzige halt
für die strauchelnden ist,
denen sie die netze
zerrissen haben.

Empört,
wenn ein hängender sich losreißt
und halbtot wieder nach luft schnappt.

Sie wehren sich
der hände der ertrinkenden
die mit einem schrei
blind schon nach ihren kleidern fassen.
Im unbeirrten vertrauen,
dass das dünne eis
ihre körper noch länger trägt,
ohne die last derer,
die sie vom festland
dem nur vorläufigen
gestoßen haben.

Verstört,
wenn eine hand sich entgegenstreckt
und sterbende aus dem wasser zieht.

Sie haben nicht
das tödliche recht zu gehorchen
und nehmen sich’s,
ihren untergang zu planen
und vor allem den anderer,
fraglos ergeben
dem alles feilbietenden markt.
Sie fanden sich ab mit dem
verlust ihnen fremder
leben und übersehn
dass auch ihr eigenes
nur den flexiblen faktor
einer profitbilanz
bildet.

Das eis bricht
und sie bezahlen den strick
Als letzte hoffnung.

Ines Aftenberger






impressum
ausreißer #08

Herausgeberin und Chefredakteurin
Evelyn Schalk

Redaktion
Ulrike Freitag
Romana Scheiblmaier


AutorInnen

Ines Aftenberger
Erwin Fiala
Berndt Luef
Markus Mogg
Wofgang Schmidt


Cartoon

Julia Kläring


Fotos
Peter Silie (1-3)


Gestaltung
Andreas Brandstätter

Kontakt: Evelyn Schalk, Tel.: 0676/300 93 63,
mail: evelyn.schalk@stud.uni-graz.at
Thema der nächsten Ausgabe: Widerstand – Alltag, Alltag - Widerstand
© Die Rechte verbleiben bei den AutorInnen

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[News/artifex/24.04.2006]





    News/artifex


    31.05.2011 Europäisches Kino ganz nah!

    23.11.2010 pantherion needs you NOW

    18.05.2009 Black Box

    15.05.2009 Das amüsante Geschäft zwischen Weinlokal und Ministerium

    10.05.2009 Brandrede

    20.04.2009 Der Riesenjoint - the true story

    04.02.2009 KiG! - die antwort

    12.01.2009 KiG! - das quiz

    11.01.2009 woerter

    03.11.2008 ÜBERLEBENSGESCHICHTEN 1938 - 2008

    17.10.2008 Die Erfüllung großer Erwartungen

    03.09.2008 Dein Land gibt es nicht

    19.03.2008 BARE DROMA ("Wanderungen") von Norbert Prettenthaler und Stefan Schmid

    18.03.2008 Wie Wahrnehmen in Vertrauen eingebettet sein kann

    17.03.2008 Das Hirn wird populär!

    11.02.2008 Interview mit Daniel Hafner

    08.11.2007 In Afrika bei Graz

    04.10.2007 Einladung zum Herbstfest von RADIO HELSINKI 92,6fm

    03.10.2007 Trost records – 6th anniversary!

    14.02.2007 ST.ANDRÄ/GRAZ: CHRISTIAN EISENBERGER, „ERROR NO SIGNAL“

    22.12.2006 eine hymne fuer KiG!

    22.08.2006 ausreißer X

    07.08.2006 Kerstin Barnick-Braun: Notizen zum Sammeln als künstlerische Strategie

    25.06.2006 ausreißer IX

    24.04.2006 ausreißer VIII

    28.02.2006 SEWTEETH

    15.02.2006 ausreißer VII

    03.02.2006 CODE INCONNU

    30.01.2006 Nam June Paik gestorben

    18.01.2006 Eröffnungsfilm der DIAGONALE 06

    12.01.2006 ausreißer VI

    11.12.2005 ausreißer V

    29.08.2005 Transmitter 2005: Gegen den Mainstream bürsten!

    08.07.2005 Europäisches Netzwerk für freie Theaterarbeit gegründet

    10.04.2005 ausreißer IV

    01.04.2005 ausreißer III

    20.03.2005 der "ausreißer" bei der DIAGONALE

    10.03.2005 DIAGONALE 14. bis 20. März 2005

    25.01.2005 ausLage live cam

    17.01.2005 der ausreißer - die grazer wandzeitung

    29.12.2004 Susan Sontag ist tot !

    20.12.2004 ausreißer II

    07.11.2004 FIRN - PLUTO FOOTAGE

    27.10.2004 Legendärer Popstar-Entdecker John Peel gestorben

    11.10.2004 Nobelpreis für Austrokoffer

    11.10.2004 081004 martin krusches logbuch

    07.10.2004 Elfriede Jelinek ist Literaturnobelpreisträgerin 2004

    05.10.2004 Die Kunst des sozialen Zusammenhalts - Theater & Partizipation

    28.09.2004 UNSERE FRAU PRÄSIDENTIN KRIEGT DEN PREIS!

    15.07.2004 no milk_no honey

    01.07.2004 ausreißer I

    14.06.2004 WeiberDiwan 2/04 im Netz

    09.06.2004 ECHO von kulturen in bewegung mit dem Weltkulturkalender

    06.04.2004 neue CD: Novi Sad

    29.03.2004 NIL: Kunstraum + Café

    11.03.2004 TIB Film-Tipp

    09.02.2004 Nina Schedlmayer: Look at your unconsciousness!

    05.02.2004 Gewinnerin des Stückewettbewerbes der Berliner Schaubühne

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