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Der ORF und die Alchemie
Der ORF hat ein Problem. Das wissen die SchwarzseherInnen so gut wie die braven Ablieferer des GIS-Lösegeldes; die Spatzen zwitschern es von den antennen- bewachsenen Dächern und die Omas auf ihren Parkbänken betratschen es; es ist nicht einmal auszuschließen, dass Ex-Programmdirektor Wolfgang Lorenz sich eines traurigen Abends des „Scheiß-Internets“ (Zitat: ders.) bedienen musste, um ORF-General Wrabez eine Mail zu dem nämlichen Thema zu senden.
Worin das Problem im Einzelnen bestehen könnte, darüber gehen die Meinungen aufs Allerdemokratischste auseinander. Zur Auswahl stünde, neben vielem Anderen, „zu viel Parteieneinfluß“, „zu wenig Parteieneinfluß“, „zu wenig Geld“, „zu viel Werbung“, „zu wenig Werbung“, „zu billiges Programm“, „zu teures Programm“, „beschissenen Arbeitsbedingungen“, „Thomas Brezina“ und „Vera Rußwurm“. Mehrfachnennungen, auch solche, die auf den ersten Blick paradox erscheinen, sind möglich und sachgerecht (man denke nur an das Dreigestirn „Brezina“, „zu billig“ und „zu teuer“). Was aber auch immer in wirklich echter Wirklichkeit schuld an der Misere ist, fest steht: Sie, die Misere, zeigt in den letzten Monaten die unangenehme Tendenz, auch solche Glieder des Organismus ORF zu befallen, die mensch bis dato für robuste, geradezu trutzige Bollwerke der Zurechnungsfähigkeit halten durfte.
Zuerst war das Hauptabendprogramm von ORF1 dran. Am 6. März wurde es - äh - bereichert um den inzwischen legendären Dokumentarfilm „Am Anfang war das Licht“, in dem mit eindrucksvollen Bildern die These dargelegt wurde, man könne sich unter Umgehung echten Essens und Trinkens von „feinstoffliche Energien“ ernähren. „Ö3-Filmexperte“ P.A. Straubinger, der Buch und Regie des spektakulär blöden Machwerks verantwortet, gab in der darauffolgenden Diskussion Auskunft, er habe sich mit diesem Film „gegen das materialistische Denken“ wenden wollen (zumindest in puncto „Denken“ war der Mann erfolgreich). Ebenfalls anwesend: Der Arzt und hauptberufliche Charismatiker Rüdiger Dahlke. Internet-Gerüchten zufolge soll mit Prof. Heinz Oberhummer ein ernstlich kompetenter Vertreter der „Gegenseite“ zwar erst ein-, dann aber wieder ausgeladen worden sein. Dass es das behandelte Phänomen des „Lebens von Licht“ schlicht und ergreifend nicht gibt (sämtliche Studien, die anderes behaupten, sind nachweislich fehlerhaft), und dass bei dem Versuch, das „Ideal der Nahrungslosigkeit“ zu erreichen, auch schon Leute zu Tode gekommen sind - was solls? Eine hinreichend photogene Person aus dem oberen Drittel der ORF-Hierarchie hat einen Film gedreht. Hurrah!
Einen Monat später war die Reihe am "Kultursender Ö1", genauer: An der so unspektakulären wie nützlichen Sendereihe "Radiokolleg", die sonst den Vormittag von HaushaltsarbeiterInnen, KiG!-Textbeiträgern und Berufsfahrerinnen um ein Stückchen Allgemeinbidlung zu bereichern pflegt. Im Kontext dieser Reihe nun wurde vom zweiten bis zum vierten April ein dreiteiliges Feature zur "Traditionellen Europäischen Heilkunst" ausgestrahlt. Allein: Wer sich, wie ich, von der dazugehörigen Ankündigung einen heiter-gruseligen Ausflug ins Kuriositätenkabinett der Sozial- und Medizingeschichte versprach, wurde schwer enttäuscht. Aber nicht, weil das Feature nicht heiter oder gruselig oder kurios genug gewesen wäre. Im Gegenteil. Es war all dieses, aber halt leider aus Versehen. Denn Daniela Zimper, die verantwortliche Sendungsmacherin, lieferte den gespannten HörerInnen nicht etwa einen Rundgang durchs Museum des Schröpfens, Gesundbetens und Schädel-Trepantierens ins Haus. Statt dessen gab es im Wesentlichen ein flammendes Plädoyer für das Recht der Anbieter von Alchemie, Schröpfkuren und verwandten Betrügereien, nicht nach den selben Regeln kontrolliert zu werden wie die "böse" "Schul"medizin.
Solange die Auskunftspersonen der Radiokolleg-Sendung (Kräuterweiblein, Kräutermännlein, Medizinhistoriker, ApothekerInnen) sich darauf beschränkten, über die vermuteten Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung von "wild wachsenden" vs. "gezüchteten" Heilpflanzen zu reden, blieb ich noch interessiert dran. Tendenziös war auch dieses schon (böse Industrie hier, gute vormoderne Produktionsmethode dort), aber es war gleichwohl argumentierbar und wäre, bei Zutreffen der Behauptungen, ein nützlicher Beitrag zur Verbesserung der zeitgenössischen Heilkunst gewesen. Allein: Den krönenden Abschluss dieses speziellen Argumentationsstrangs bildete nicht, wie erwartet bzw. erhofft, eine pharmakologische Studie oder ähnlich Greifbares, sondern die Wortspende einer Apothekerin(!) des sinngemäßen Inhalts, dass es eh wurscht wäre, ob sich die behaupteten Unterschiede messen ließen. Man könne nämlich, so weiter die Schande ihrer Zunft, nicht alles messen, man müsse manches vielmehr "spüüüren".
Ich
wollte nun, da mir klar geworden war, wohin der feinstoffliche Hase
lief bzw. torkelte, schon ausschalten, aber eine Aufwallung
masochistisch gefärbter Angstlust hielt mich neben dem Radiogerät.
Weshalb ich Ohrenzeuge des Auftritts einer Anbieterin von "Spagyrik"
werden durfte. Nun ist Spagyrik, per Definition, das Herstellen
"alchemistischer Auszüge" aus diversen Grundsubstanzen.
Dies hat man sich zum Beispiel vorzustellen als Destillation bei
anschließender "Veraschung" der Rückstände - wobei die
Asche dann die zu handelnde "Arzneimittelspezialität"
darstellt. Dass derlei Unfug seinen Weg in das Homöpathische
Arzneibuch gefunden hat, während es selbst noch von der deutschen
Stiftung Warentest für wirkungslos befunden wurde, versteht sich
quasi von selbt. Auch wusste die
Kurpfuscherin
Kleinunternehmerin,
die dem Radiokolleg da von diesem ihrem täglich Brot erzählte, eine
bittere Klage vorzubringen: Seit kurzem würde sie, aufgrund neu
eingeführter verbindlicher Hygiene-Normen, vom
Gesundheitsministerium kontrolliert. Diese Kontrollen würden ihr die
Arbeit erheblich erschweren. Es müsse Schikane vorliegen - sie sei
ja kein Pharmakonzern... Dem bunten Kaleidoskop der Denkfehler
(am Häufigsten "Post hoc", "confirmation bias"
und "false positive"), das die dreiteilige Reihe zur
"Traditionellen Europäischen Heilkunst" darstellte, konnte
ich als "Aussage" nur das Folgende entnehmen:
- "Gefühl" und "Überlieferung" als valide Kriterien in die Medizin! Scheiss auf Beweisbarkeit und Statistik!
- "Wir täten gerne unhinterfragt viel Geld für irgendeinen Schaaß gezahlt kriegen, den wir uns aus dem Finger (vom Paracelsus) saugen, wenn der Tag lang ist. Wir sind ja kein böser Phramakonzern, den man kontrollieren müsste. Wir sind nämlich lieb. Und "erfühlen", dass wir lieb sind, ist ein valides Kriterium (vgl. Punkt 1). Deshalb geht Euch gar nix an, wie es in unseren Labors ausschaut."
- Da capo ad nauseam.
Soweit also das Radiokolleg am XX.XX.2013, und soweit die Dokumentation "Am Anfang war das Licht", die im Hauptabendprogramm von ORF 1 lief, und zwar an einem anderen Tag als dem ersten April. Wie gesagt, der ORF hat ein Problem, und es weitet sich aus. Die zwei beschriebenen öffentlich-rechtlichen Betriebsunfälle jedenfalls lassen als Deutung zweierlei zu.
Könnte sein, es fehlt bloß am Geld für die innerbetriebliche Qualitätskontrolle und zu wenige fest angestellte Redakteure stehen zu vielen "freien" BeiträgerInnen gegenüber. In dieser Interpretation gäbe es zwar noch ein institutionelles Gedächtnis für den Umstand, dass der öffentlich-rechtliche Auftrag des ORF "die Förderung von (...) Wissenschaft" beinhaltet.
Andererseits ist aber auch denkbar, dass es zumindest hier mal nicht an Geld mangelt, sondern vielmehr an Ahnung. "Gegnerschaft zum materialistischen Denken" bzw. "Feinstoff-Propaganda" erscheint in dieser Interpretation zumindest manchen Verantwortlichen als ernstzunehmender Beitrag zu einer noch nicht gänzlich entschiedenen Debatte. Die blödsinnige Gegenüberstellung "Wissenschaftliches Denken" vs. "Mystisches Fühlen" als zweier konkurrierender Weltaneignungssysteme ist plötzlich nicht nur nicht überwunden, sondern wird geradezu zur entscheidenden Frage für das Leben im 21. Jahrhundert - als wäre das nicht alles schon erledigt... Als wäre nicht Liesl "Lasst-uns-einem-Astrologen-einen-Wissenschaftspreis-verleihen!" Gehrer zu ihrem und unserem Glück in Ministerpension. Als hätte nicht Kant... Ach.
Wir schlussfolgern: Der ORF ermangelt
entweder des Geldkapitals oder der Netto-Gehirnrechenleistung, um
seinem öff.-rechtl. Auftrag nachzukommen. Dem kann und muss, so oder
so, abgeholfen werden. "Weniger Werbung", "Mehr
Gebühren", "Weniger Brezina", "Mehr
Anstellungsverhältnisse" würden sich z.B. fürs Erste
anbieten.
PS: Dass ich mir im Laufe dieses Artikels verkniffen habe, darauf hinzuweisen, in welchem weltanschaulichen Freundeskreis das Insistieren aufs "Regionale", "Echte", "Alte", das, sagen wir mal so, "Identitäre" besonders beliebt ist - welche Abwehrstrategie gegen die Zumutungen der Moderne da gefahren wird - muss mir von Seiten der nicht-rechtsradikalen und allgemein gutwilligen Freunde des Esoterik-Scheissdrecks bitteschön als nahezu übermenschliche Fairness angerechnet werden. Danke!
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Links:
Radiokolleg zur "Traditionellen Abendländischen Medizin": http://oe1.orf.at/programm/333083
Spagyrik auf WP: http://de.wikipedia.org/wiki/Spagyrik
Am Anfang war das Licht - Filmhomepage: http://www.amanfangwardaslicht.at/
Am Anfang war das Licht - Diskussion auf Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=EejvC745_QA
Am Anfang war das Licht - Kritik auf psiram: http://blog.psiram.com/2013/03/am-anfang-war-das-licht-talk-beim-orf/?COLLCC=1395256628
Bildrechte:
[Public domain] via Wikimedia Commons
http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AHermesTrismegistusCauc.jpg
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